VS: Guten Tag, Pastor Marks! Wir wünschen Ihnen ein gutes neues Jahr und freuen uns über ein weiteres Interview mit Ihnen.
MM: Vielen Dank für die Einladung. Ein frohes, gesundes, segensreiches und friedvolles 2022 wünsche ich auch Ihnen und Ihrer Leserschaft.
VS: Mit dieser Ausgabe durchschreiten wir die Faschingszeit. Daher die naheliegende Frage: Wird in der Kirche eigentlich auch Karneval gefeiert?
MM: Es kommt darauf an, welche Kirche Sie meinen. Wir als evangelische Christen hier im Norden haben damit ja nicht so viel am Hut. In den Kindergärten und Schulen verkleiden sich die Kinder. Aber sonst spielt die sogenannte „fünfte Jahreszeit“ im öffentlichen Leben kaum eine Rolle. Ganz anders in südlicheren Gegenden, wie in Köln und in Mainz. Besonders dort, wo die katholische Tradition sehr präsent war oder ist, steht der Karneval hoch im Kurs.
VS: Wie kommt das?
MM: Da müssen wir weit zurückschauen. Was viele gar nicht mehr wissen: Der Karneval hat seinen Ursprung im Christentum. Der Name stammt vom lateinischen „Carnem levare“, übersetzt „Fleischwegnehmen“. Es war ursprünglich ein Fest, das nur an einem Tag, und zwar am Abend vor Beginn der vierzigtägigen Fastenzeit gefeiert wurde. Das hatte einerseits ganz praktische Gründe: Fleisch, Fett und Eier, all die Nahrungsmittel, die noch im Vorrat waren und über die lange Fastenzeit verderben würden, mussten verspeist werden. Andererseits hat die Kirche diese Gelegenheit zu pädagogischen Zwecken genutzt: Bevor die Gläubigen in der Fastenzeit auf alle Gaumen- und andere Freuden verzichten mussten, sollten sie nochmal so richtig reinhauen, ausgelassen sein und lustvoll feiern dürfen.
VS: Aha. Sind so vielleicht auch die verschiedenen Namen für das Fest zu erklären? Als gebürtige Rheinländerin ist mir der Name „Fasching“ vertraut. Die Älteren haben „Fastelovend“ gesagt. Da kommt es noch deutlicher zum Ausdruck: „Fasching“ von „Fastnacht“. Eben die Nacht vor der Fastenzeit?
MM: So ist es. Diese älteren Namen sind schon seit dem 13. Jahrhundert belegt. Aber der Ursprung der Karnevalszeit liegt noch viel weiter zurück. Im Jahre 325 gab es ein großes kirchliches Konzil, auf dem unter anderem festgelegt wurde, wann Ostern gefeiert werden sollte. Als Termin wurde der Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond bestimmt, angelehnt an die Zeit des jüdischen Pessachfestes, nach dem laut der Überlieferung Jesus auferstanden ist. Seitdem liegt der Ostertag immer zwischen dem 21. März und dem 18. April. Und dem entsprechend ergibt sich die davor liegende Passions- und Fastenzeit. „Sieben Wochen ohne“, wie es heute heißt. Jedes Jahr unter einem anderen Motto und mit unterschiedlichen Herausforderungen: Mal ohne Fernsehen, mal ohne Süßigkeiten, mal ohne Hektik, mal ohne Sex, mal ohne Handy – und so weiter.
VS: So hat die Kirche also indirekt auch die Faschingszeit festgelegt.
MM: Zumindest den Tag der sogenannten Fastnacht. Die Tradition mit dem 11.11. um 11 Uhr 11 als Beginn der Karnevalszeit hat sich erst später entwickelt, als das Fest mit Musik und Tanz, allerlei verrückten Sachen und den derben Fastnachtsspielen immer ausschweifender und länger gefeiert wurde.
VS: Was hat es eigentlich mit der 11 auf sich?
MM: Es war mir auch neu, dass diese typische Karnevalszahl ebenfalls aus kirchlichen Zusammenhängen stammt. Die christliche Botschaft beinhaltet, dass vor Gott alle Menschen gleichviel gelten. So soll es auch an Karneval sein. Die beiden gleichen Ziffern bedeuten, dass gesellschaftliche Unterschiede in dieser Zeit keine Rolle spielen sollen. Da darf der Bettler mit dem König am Tisch sitzen, der Räuber mit dem Richter ein Bier trinken und so weiter. Außerdem symbolisiert die 11 die Ausnahmezeit. Sie liegt zwischen den beiden biblischen Zahlen 10 und 12. Man denke an die Zehn Gebote und an die Zwölf Apostel. Gelten diese als „heilige“ Zahlen, die mit dem göttlichen Reich zu tun haben, wird die 11 als eine „unheilige“ Zahl aus dem Reich des Teufels gesehen.
VS: Nur keine Angst vor der Hölle. Den Teufel mal ordentlich treiben lassen.
MM: Ja, einfach mal den Lüsten und Verrücktheiten frönen, die man sonst unterdrückt, aus Angst, sein Gesicht, seine Stellung, seinen Arbeitsplatz oder sonst etwas zu verlieren. In seiner Moralsatire „Das Narrenschiff“ hat Sebastian Brant Ende des 15. Jahrhunderts die menschlichen Laster aufs Korn genommen und vorgeführt, wie man sich so richtig daneben benehmen kann. Wer mitmachte, riskierte natürlich, dass die Fallhöhe groß wurde, wenn am nächsten Tag für die begangenen Sünden Abbitte zu leisten war. Das hat die Kirche als pädagogisches Mittel genutzt, nach dem Motto: „Sündige tapfer, aber bete noch tapferer!“
VS: Kaum eine andere Figur gehört ja so bezeichnend zur Karnevalszeit wie der Narr. Dieser Typ mit der Schellenkappe, der sich so benimmt, als hätte er einen an der Waffel. Im Rheinland wird er deshalb der „Jeck“ genannt.
MM: Ach, ich liebe diese Figur. Der Narr war der einzige, der dem König die Wahrheit ins Gesicht sagen durfte, ohne dafür bestraft zu werden. Im Mittelalter entstand in der Kirche das Fest der Narren. Sie tanzten auf den Altären, verspotteten mit ihren Manieren und Verkleidungen die religiöse Obrigkeit und hielten ihnen mit ihren Possenspielen den Spiegel vor. Überall, wo es zu moralisch zuging, verführten sie die Leute zum Lachen, verballhornten Regeln, lockerten Verkrampfungen und heiterten die ganze Stimmung auf. Wohltuend, aber oft auch ernüchternd.
VS: Mit der Wahrheit konfrontiert zu werden, ist ja nicht immer leicht.
MM: Eben. Da kann der Narr auf lustigste Weise die heikelsten Sachen herausposaunen, so dass man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll.
VS: Eine komische und eine tragische Figur zugleich.
MM: Tja, da passt die Bezeichnung „Jeck“, so wie sie heute gebraucht wird, schon ganz gut. Ursprünglich aber wurden Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung so genannt. Aufgrund ihres „Defekts“ galten sie nach dem damaligen Glaubensverständnis nicht als Ebenbilder Gottes und standen daher außerhalb der Gesellschaft. Als Gegenspieler des Normalen wurden sie einerseits gefürchtet und andererseits geachtet. Die Schellenkappe diente als Warnung für die Bevölkerung, während der König den Jeck als Hofnarren einstellte, der ihm frei herausplappernd erzählte, was das Volk von ihm dachte.
VS: Daher das Wort „Narrenfreiheit“.
MM: Ja, solche Narrenfreiheit genießen heute auch die Satiriker im Fernsehen: Michael Mittermaier, Dieter Nuhr, Sebastian Pufpaff, Christian Ehring von „extra3“, Oliver Welke von der „heute-show“ und wie sie alle heißen.
VS: Täusche ich mich oder sind da in den letzten Jahren sehr viele solcher Satiriker in die Öffentlichkeit getreten? Mir scheint, es werden immer mehr.
MM: Kommt mir auch so vor. Kennen Sie den Spruch: „Wenn die Welt aus den Fugen gerät, werden die Narren weise“.
VS: Na, dann wird es aber höchste Zeit, dass auch in der evangelischen Kirche mehr Karneval gefeiert wird. Eine Brise Humor, gemischt mit einer Portion Selbstironie würde ihr doch sicher gut tun. Warum nicht auch mal einen Witz von der Kanzel?
MM: Kennen Sie den: Macht ein Pastor Urlaub in Afrika. Plötzlich sieht er sich von einem Rudel Löwen umzingelt. Flucht ist ausgeschlossen. Da fällt er auf die Knie, schließt die Augen und betet: „Oh Herr, gib mir ein Zeichen deiner Gnade und hilf mir! Befiehl diesen Löwen, sich wie echte Christen zu verhalten!“ Als er wieder aufblickt, sitzen die Löwen im Kreis um ihn herum, haben die Pfoten gefaltet und beten: „Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns aus Gnaden bescheret hast.“
VS: (Lacht) Überlegen Sie gut, Pastor Marks, wo Sie Ihren Urlaub verbringen. Vielen Dank, dass Sie heute wieder unser Gast waren.
MM: Immer gern.