MM: Diese Frage beschäftigt die Gemüter seit August. Viele denken dabei an die überfüllten Kirchen am Heiligabend. Aber auch an die vertrauten Abläufe zuhause. Weihnachten – das Fest der Familie. Wie gestalten wir das in diesem Jahr unter Corona-Bedingungen? Die einzigen, die damit kein Problem haben, sind die Schokoladen-Weihnachtsmänner in den Supermarktregalen. Sie stehen dort wie alle Jahre, seit August, sogar ohne Mund-Nasenschutz.
VS: Ich versuche mir gerade vorzustellen: Die Kinder mit ihren Familien kommen zu Besuch; zur Begrüßung möchte man sich umarmen; ist das erlaubt? Im Ofen brutzelt die Weihnachtsgans; das gemeinsame Festtags-Essen an einem Tisch; ist das zu verantworten? Man möchte sich gegenseitig die Geschenke überreichen; „Fröhliche Weihnachten“ auf Abstand – eine komische Stimmung.
MM: Weihnachten – das Fest der Gefühle. In der Tat gehört eine bestimmte Stimmung dazu, innerlich wie äußerlich. Deshalb ist die Adventszeit vielen so wichtig. Plätzchenbacken, gebastelte Sterne ans Fenster hängen, Kerzen, Lichterketten, Krippenfiguren, der Glühwein am Weihnachtsmarkt usw. – das alles soll die Stimmung bringen, die wir uns wünschen.
VS: Und macht Corona uns nun einen Strich durch die Rechnung?
MM: Es wurde ja in anderen Zusammenhängen schon öfter betont, dass die Corona-Krise auch eine Chance bedeuten kann. Mir fällt die Geschichte vom „Weihnachten der Tiere“ ein. Kennen Sie die? Die Tiere diskutierten einmal über Weihnachten. Sie stritten, was wohl die Hauptsache an Weihnachten sei. „Na klar, Gänsebraten“, sagte der Fuchs, „was wäre Weihnachten ohne Gänsebraten!“ „Schnee“, sagte der Eisbär, „viel Schnee!“ Und er schwärmte verzückt: „Weiße Weihnachten feiern!“
Das Reh sagte: „Ich brauche aber einen Tannenbaum, sonst kann ich nicht Weihnachten feiern.“ „Aber nicht so viele Kerzen“, heulte die Eule, „schön schummrig und gemütlich muss es sein. Stimmung ist die Hauptsache!“ „Aber mein neues Kleid muss man sehen“, sagte der Pfau. „Wenn ich kein neues Kleid kriege, ist für mich kein Weihnachten.“ „Und Schmuck“, krächzte die Elster, „jede Weihnachten kriege ich was: einen Ring, ein Armband, eine Brosche oder eine Kette, das ist für mich das Allerschönste.“
„Na, aber bitte den Stollen nicht vergessen“, brummte der Bär, „das ist doch die Hauptsache. Wenn es den nicht gibt und all die süßen Sachen, verzichte ich lieber auf Weihnachten.“ „Mach's wie ich“, sagte der Dachs, „pennen, pennen, das ist das Wahre an Weihnachten, mal richtig ausschlafen!“ „Und saufen“, ergänzte der Ochse, „mal richtig einen saufen und dann pennen“. Dann aber schrie er: „Aua“, denn der Esel hatte ihm einen gewaltigen Tritt versetzt: „Du Ochse, denkst du denn nicht an das Kind?“ Da senkte der Ochse beschämt den Kopf und sagte: „Das Kind, ja das Kind, das Kind ist die Hauptsache.“ „Übrigens“, fragte der Esel: „Wissen das auch die Menschen?“
VS: Ha, eine lustige Geschichte, die aber auch nachdenklich macht: So viel Gedöns, das sich im Laufe der Zeit um Weihnachten herum angesammelt hat. Und Corona nun als Chance, dass all das Überflüssige von uns abfällt und der Blick fürs Wesentliche frei wird?
MM: Ja und Nein. Man kann sich natürlich fragen, was Schnee mit dem Christuskind zu tun hat. Aber vieles von dem, was uns in weihnachtliche Stimmung bringen soll, ist nicht unbedingt überflüssiges Gedöns. Früher mussten wir uns das in der Kirche öfter so anhören. Da meinten die Pastoren, sie müssten dem ‚uneigentlichen‘ Weihnachtsfest das ‚eigentliche‘ entgegensetzen. Heute wissen wir, dass beides zusammengehört. Weihnachten ist im Laufe der letzten 200 Jahre zu einem Fest der bürgerlichen Moderne geworden. Und wir als Pastoren sind gefordert, das scheinbar un-religiöse Gedöns auf seinen tieferen Sinngehalt hin zu entziffern. Oft entdeckt man erst bei genauerem Hinsehen, was das mit der biblischen Weihnachtsbotschaft zu tun hat.
VS: Zum Beispiel die Geschenke? Weil Weihnachten ja mit einem großen Geschenk zu tun hat?
MM: Genau! Oder auch die vielen Kerzen und Lichter. Einerseits zeigen sie, wie hungrig wir Menschen nach Licht sind, gerade in dieser dunklen Jahreszeit, auch im übertragenen Sinne: nach Trost, Anerkennung, Liebe, Versöhnung, Frieden … – Und zugleich verweisen sie im christlichen Sinne auf „das“ Licht aller Lichter: das Geschenk der göttlichen Liebe, das wir ‚alle Jahre wieder‘ empfangen, über das wir uns freuen und für das wir Danke sagen.
VS: Deshalb auch die vielen Lichter am Weihnachtsbaum?
MM: Ja. Als Kinder waren wir es gewohnt, ihn staunend von unten nach oben zu betrachten. Aber anders herum leuchtet der Sinn uns heute ein: Gottes Liebe in dieser Welt beginnt ganz klein (die eine Kerze auf der Spitze, ein Symbol für das Christuskind in der Krippe von Bethlehem). Aber von dort breitet es sich aus. Von oben nach unten immer mehr. Eine ganze Kaskade von Licht. Gottes Liebe vom Himmel, die sich dadurch verwirklicht, dass wir Menschen sie auf Erden einander weitergeben.
VS: Interessant! Das habe ich noch nie so gesehen. Leuchtet aber ein. Ich habe mal gehört, auch der Stollen soll etwas damit zu tun haben: der Puderzucker als Symbol für die Windeln.
MM: Da liegt der Bär also gar nicht so falsch. Und wenn die Elster bei Weihnachten zuerst an Schmuck und der Pfau an ein neues Kleid denkt, ist das auch nicht so abwegig: Gott kommt als ein Kind zur Welt, zerbrechlich wie ein kostbares Schmuckstück. Und wer in die Krippe hineingeschaut hat, wird durch den Blick dieses Kindes verwandelt. „Zieht den neuen Menschen an“, sagt der Apostel Paulus, der diese Verwandlung so versteht: wir werden mit der Liebe, die Gott uns schenkt, überkleidet. Sie bestimmt nun unsere Gestalt – also unser Denken, Fühlen und Handeln. Was den alten Menschen ausgemacht hat, alles, was wir vertan oder versäumt, angerichtet oder erlitten haben, zählt nicht mehr.
VS: „Welt ging verloren, Christ ist geboren“. So heißt es ja auch in dem Weihnachtshit „O du fröhliche“. Es war mir schon immer ein Rätsel: Ein schwaches Kind entmachtet die stärksten Bösewichte; das Kleine wird groß, das Große klein.
MM: Nun ja, wir sprechen hier von einem besonderen Kind, einzigartig in der ganzen Menschheitsgeschichte. Da haben die Tiere aus der Geschichte schon recht: das ist „die Hauptsache von Weihnachten“. Aber auch nur, wenn wir das „wissen“ und etwas damit anzufangen wissen. Was der Esel zum Schluss sagt, ist also überhaupt keine Eselei, sondern sogar der springende Punkt. Ein mittelalterlicher Dichter, der unter dem Pseudonym „Angelus Silesius“ bekannt ist, sagte es so: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.“
VS: Aber sind wir denn nicht alle besondere Menschen, einzigartig in der ganzen Menschheitsgeschichte? Es gibt zwar Ähnlichkeiten, aber niemand ist genau wie ich. Mein Fingerabdruck ist der Beweis.
MM: Ein Segen, wenn ein Mensch das so von sich sagen kann und das Glück darüber empfindet. Nur geht uns Menschen diese Gewissheit – Gott sei´s geklagt – so oft und immer wieder verloren, wenn unsere guten Lebenserfahrungen durch schlimme und böse in Frage gestellt werden und wir die Brüche und Widersprüche in unserer eigenen Person, in unserem zwischenmenschlichen Zusammenleben und in der kleinen und großen Politik in dieser Welt erfahren und erleiden. Dann brauchen wir gute Worte, die uns heben können und deshalb tief gehen müssen. Tiefer als unsere Zweifel, weiter als unsere Sichtweisen, tragfähiger als unsere selbstgemachten Bewältigungsstrategien, mächtiger als unsere Ohnmacht. Dann wird so ein Wort, das Paul Gerhardt in einem seiner schönsten Weihnachtslieder dichtet, auf einmal zu einem Stück Brot: „Gottes Kind / das verbind´t / sich mit unserm Blute“ (Ev. Gesangbuch, Nr. 36).
VS: In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Lieben ein fröhliches Weihnachtsfest. Dürfen wir denn damit rechnen, dass wir in Rahlstedt Heiligabend und Weihnachten trotz Corona Gottesdienst feiern können?
MM: Selbstverständlich – so Gott will und wir leben! Herzliche Einladung an alle!