VS: Weihnachten rückt näher. Worauf freuen Sie sich am meisten, Pastor Marks?
MM: Am meisten freue ich mich darüber, dass wir wieder singen dürfen. Denn das habe ich, das haben viele, mit denen ich gesprochen habe, im vorigen Jahr am meisten vermisst. Da war wegen der Pandemie vieles nicht erlaubt, was für uns unbedingt zu Weihnachten dazugehört. Und wenn das nicht möglich ist, merkt man erst, wie sehr man es braucht. Es ist etwas anderes, ob ich zuhause eine CD mit Weihnachtsmusik einlege und alleine dazu mitträllere oder ob ich mit anderen zusammenkommen kann und wir in der vollbesetzten Kirche gemeinsam im großen Chor die Weihnachtslieder singen können.
VS: Wie kommt es, dass das Singen an Weihnachten eine so große Bedeutung hat?
MM: Singen hat ja nicht nur an Weihnachten eine große Bedeutung. Sondern überhaupt. Ich teile, was Martin Luther einmal sagte: „Ich liebe die Musik. Denn sie ist ein Geschenk Gottes und nicht der Menschen; sie macht fröhliche Herzen; sie verjagt Zorn, Begierden, Hochmut.“ Deshalb hat Luther selbst auch Lieder gedichtet, um den neuen Glauben unters Volk zu bringen. Wissenschaftler sind sich einig: ohne die Musik, ohne die Lieder hätte es die Reformation so nie gegeben. Glaube und Musik gehören untrennbar zusammen. Dazu könnten Sie unsere Kirchenmusikerin mal zum Interview einladen, sie könnte Ihnen mehr darüber sagen. Was Weihnachten betrifft, da sind es wohl die Stimmungen und Gefühle, die für uns zu diesem Fest gehören und die beim Musizieren und Singen auf unübertreffliche Weise zu ihrem Recht kommen.
VS: Besonders wohl beim „O du fröhliche“.
MM: In der Tat. Kennen Sie die Krippenandachten im Michel? Eine Hamburger Tradition, die in diesem Stil europaweit einzigartig ist. Vom 1. Weihnachtstag bis 1. Januar jeden Abend um 18 Uhr. Immer steht ein Oratorium oder Teile daraus im Mittelpunkt, umrahmt von einer schlanken Liturgie. Und zum Schluss dann das „O du fröhliche“, gesungen im Chor von 2500 Menschen im Allround-Sound aller vier Orgeln und bei der letzten Strophe geht es einen Ton höher und das Orchester und die Zimbeln der großen Orgel kommen dazu. Da wird einem ganz anders. Da geschieht etwas, das man mit Worten kaum beschreiben kann. Sehr ergreifend. Voriges Jahr mussten diese Krippenandachten wegen Corona ausfallen. Auch dieses Jahr wird der Michel sicher noch nicht so vollbesetzt sein dürfen. Und die Masken verschlucken viel … – Aber es muss überhaupt nicht dieses Mega-Erlebnis im Michel sein. Auch bei uns in Rahlstedt hat die Musik und das gemeinsame Singen in der Kirche eine große Bedeutung – gerade an Weihnachten.
VS: Dieses Jahr wird es – soweit ich informiert bin – wieder überall Weihnachtsmärkte geben. Natürlich mit Maskenpflicht und je nach dem auch unter 3G. Dieser Rummel ist zwar nicht so mein Ding, aber irgendwie gehört es doch dazu, um ein bisschen in Advents- und Weihnachtsstimmung zu kommen, einen Glühwein zu trinken und so. Da wird man ja auch von allerhand weihnachtlicher Musik umgeben: „Last Christmas I gave you my heart“, und wie diese Lieder alle heißen.
MM: Ach ja. Wie könnte es anders sein? Weihnachten ist so populär und erscheint in so vielen Bereichen zum Teil so schräg und krass kommerzialisiert, dass man es der Musikbranche nicht verübeln kann, dass auch sie Weihnachten als Event nutzt, um Geld zu verdienen. Das Lied von der Gruppe „Wham“ aus den 1980er Jahren, das Sie erwähnen, gilt übrigens als eines der meistgespielten Lieder in der Advents- und Weihnachtszeit. Dabei hat der Text gar nichts mit Weihnachten zu tun.
VS: Was ist Ihr persönlicher Weihnachts-Hit, Pastor Marks?
MM: Vielleicht verwundert es Sie, aber es ist nicht „O du fröhliche“ (lacht). Da gibt es in unserem Evangelischen Gesangbuch so manch anderes Lied, das ich immer wieder gern singe. Zum Beispiel: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Martin Luther, von dem es stammt, sagte von sich selber, dass er zum Dichten und Komponieren von Liedern nicht genügend Talent habe. Aber er hat uns einen reichen musikalischen Schatz hinterlassen, unter anderem dieses Weihnachtslied, das er 1535 für seine Kinder geschrieben hat. Es ist ein gesungenes Krippenspiel. Vor ein paar Jahren habe ich die Entstehungsgeschichte mal mit Konfirmand*innen in einem Krippenspiel für unsere heutige Zeit inszeniert. Ich hoffe, Corona erlaubt es bald, dass wir es vielleicht auch hier in Rahlstedt mal aufführen können. Natürlich gibt es weitere Lieder, die mir am Herzen liegen. Übrigens kaum die neueren, die textlich oft so flach und melodisch oft so konstruiert daherkommen. Wenn Sie mich nach meinen Hits fragen, stehen die Weihnachtslieder von Paul Gerhardt für mich nach wie vor ganz oben.
VS: Was haben die, was andere nicht haben?
MM: Darüber wäre viel zu sagen. Dafür reicht der Platz hier im „Rahlstedter Leben“ nicht aus. Versuchen wir´s kurz: Ich spüre beim Singen, dass Text und Musik eine Einheit bilden. Paul Gerhardt war Pastor, der die Gabe hatte, für seine Liedverse Worte zu finden, die im Geist der biblischen Tradition theologisch durchdrungen und zugleich so einfach und persönlich, existenziell bedeutsam und schön gereimt sind, dass nicht nur er und seine Zeitgenossen, sondern auch wir heute sehr tief durch sie berührt werden. Und er hatte das Glück, dass er in den Gemeinden, wo er tätig war, mit Kirchenmusikern zusammenarbeiten konnte, die sein Talent erkannt und seine Verse vertont haben, allen voran Johann Crüger und Johann Georg Ebeling. Ganz große Musiker und Komponisten, die selbst von dem damals so neuen christlichen Geist beflügelt waren und dies in so einfachen und tief berührenden Melodien ausdrücken konnten.
VS: Haben Sie ein Beispiel?
MM: Mein absoluter Lieblings-Hit ist „Ich steh an deiner Krippen hier“ (Ev. Gesangbuch Nr. 37). Da passt alles zusammen. Wenn ich dieses Lied höre oder am besten mit vielen in der Gemeinde an Heiligabend singe, dann wird es in allen Phasen meines Körpers, meiner Seele und meines Geistes echt Weihnachten. Fast wehre ich mich dagegen, diese Erfahrung genauer zu analysieren, aus Angst sie kaputt zu machen. Denn das Lied berührt etwas äußerst Verletzliches und Zerbrechliches in mir. Und wohl nicht nur in mir. Jede und jeder merkt es, wer es wagt, zu Weihnachten seine Panzer abzulegen und sich im Kern seines Wesens und seiner Lebendigkeit berühren zu lassen. Die Melodie hat etwas Fröhliches und Melancholisches zugleich. Sie trägt und umfängt die Verse, in denen es um die Begegnung mit dem Kind in der Krippe von Bethlehem geht und was das mit meiner eigenen Kindheit zu tun hat. Verse, in denen ich mich selbst wiederfinden kann: mit den Erfahrungen, wo Gott mir in schweren Situationen geholfen hat; wo die zerbrochene Seele wieder zusammengefügt wurde; mit der Hoffnung, dass Gott so auch künftig für mich und für uns alle da ist und die Welt in seinen Händen hält. Dies alles und noch mehr transportiert dieses Lied, nicht nur über den Text. Die Melodie spricht das ganze Pensum der Gefühlswelt an, die zu Weihnachten gehört. Ursprünglich war es eine andere. Die heutige stammt aus dem Gesangbuch des Zeitzer Schlosskantors Schemelli von 1736. Johann Sebastian Bach war als Berater daran beteiligt. Aber ob Bach, wie es unser Gesangbuch sagt, wirklich allein der Erfinder dieser Melodie ist, wird bis heute bezweifelt. Ich hätte sie auch Johann Crüger oder Johann Georg Ebeling zugetraut. Aber die waren da schon, genau wie Paul Gerhardt, längst nicht mehr unter den Lebenden.
VS: Sie machen mich neugierig auf Ihren Lieblings-Weihnachts-Hit. Können Sie nicht mal darüber predigen? Mir scheint, die meisten Leute, die Heiligabend zum Gottesdienst kommen, wissen gar nicht, welche Schätze solche Lieder in sich tragen. Man singt sie, spürt vielleicht, dass sie etwas mit einem machen, aber möchte es doch gern auch verstehen.
MM: Eine gute Idee, Frau Siems. Die nehme ich mit. In großer Vorfreude darauf, dass wir dieses Jahr – wenn auch noch mit Maske, aber dennoch – wieder singen dürfen!
VS: Vielen Dank, Pastor Marks, für dieses Interview. Ich wünsche Ihnen besinnliche Advents- und Weihnachtstage – wenn ich das so sagen darf, denn im Pastorendienst ist es ja Hoch-Zeit. Auf jeden Fall dann auch einen guten Start ins neue Jahr.
MM: Das wünsche ich Ihnen, Ihrer Familie und der ganzen Leserschaft des „Rahlstedter Lebens“ auch: Ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gesundes und friedvolles Jahr 2022.