Moonwalk

Es trommelt. Es trommelt überall. Auf dem Dach. An den Fenstern. Weil es
gießt. Den ganzen Tag schon. Der Regen drückt aufs Haus, drückt auf Frau
Engelmanns Stimmung. Der Wind peitscht die Birke. Deren Äste schlagen ans
Haus.
Frau Engelmann wohnt allein in ihrem großen Haus. Im Garten leben sechs
Hühner. Besonders nah ist ihr Gertrud, ein Huhn, dem sie das Rückwärtsgehen
beigebracht hat. Frau Engelmann ist Michael-Jackson-Fan, und Gertruds Gang
erinnert sie an Jacksons Moonwalk. Das freut sie, dass sie an Jackson denken
muss, wenn sie Gertrud sieht. Dann hat sie 'Billie Jean' im Kopf und die
anderen Lieder von Jackson. Sie selbst ist nicht mehr so trittsicher, dass sie den
Moonwalk machen könnte. Nein, den konnte sie nie.
Aber bei Dauerregen ist mit den Hühnern nichts los. Die Tiere hocken in ihrem
Häuschen, wollen nichts mit dieser nassen Welt zu tun haben.
Vorsichtig, Schritt für Schritt, geht Frau Engelmann die Treppe hinauf. Im
ersten Stock hat sie die komplette Wohnzimmereinrichtung von Herrn
Carolinos Großmutter aufgebaut: Biedermeieresstisch, Stühle, Stehlampe. Mit
Herrn Carolino hat sie fast zehn Jahre zusammengelebt. In wilder Ehe, wie sie
es genannt hatten. Beide waren verwitwet. Sie wollten kein zweites Mal
heiraten. Herr Carolino ist nun auch schon drei Jahre tot.
Ist da noch etwas in den Zimmern, überlegt sie. Von der Großmutter von Herrn
Carolino? Von ihm selbst?
Wenn Frau Engelmann alleine ist, und sie ist die meiste Zeit alleine, dann setzt
sie sich an den Esstisch, immer auf einen anderen der acht Stühle. Sie setzt
sich, schließt die Augen und entspannt sich. Und dann fühlt sie sich in andere
Menschen ein. Häufig in verstorbene. Mal in Herrn Carolinos geliebte
Großmutter, von der es ein paar Fotografien in Spitzenkleidern gibt. Mal ist sie
Herr Carolino als Kind. Und mal ist sie nur sie selbst. Dann stellt sie der
Großmutter von Herrn Carolino Fragen. Mal tut Frau Engelmann so, als sei sie
ihr verstorbener Ehemann, Günther Engelmann, der eine Panne hatte, so wie bei
Dürrenmatt. Und nun sitzt Günther durch diesen Zufall am Tisch von Herrn
Carolinos Großmutter. Irgendwie ist sie von dieser Großmutter fasziniert. Eine
schöne Frau war das.
Frau Engelmann fühlt sich diesen Menschen nahe, Verstorbenen wie Lebenden.
Für eine Weile ergibt alles einen Sinn.
Nur ein mögliches Aufeinandertreffen lässt Frau Engelmann nicht zu: Niemals
spricht Herr Carolino mit Günther. Das ist zu heikel. Im wahren Leben haben
sie sich nie getroffen, denn ihr Günther war schon lange tot, als sie Herrn
Carolino kennenlernte.
Manchmal hat die Stille erstaunliche Dimensionen, findet Frau Engelmann.
Dann rauscht alles wie ein Ozean. Oder sie summt wie Tausende von Insekten.
Chitinkörper prallen gegen Dach und Fenster. Oder ist das der Regen? Ein
riesengroßes Stöhnen und Klacken und Rauschen ist nun in ihrem Kopf.
Frau Engelmann hat mir einen Hausschlüssel gegeben. Im letzten Sommer
hatte ich sie dehydriert auf ihrer Gartenbank gefunden. Sie musste für einige
Tage ins Krankenhaus. Seitdem treffe ich sie häufiger am Esstisch im ersten
Stock ihres Hauses.
„Mir geht es gut“, sagt sie mit geschlossenen Augen, wenn ich zu ihr und
ihrem jeweiligen Gesprächspartner an den Tisch trete. Frau Engelmann erzählt
mir ihre imaginären Geschichten. Sie erzählt überhaupt viel, wenn ich zu ihr
komme. Sie erzählt mir, was in ihren geliebten Fernsehserien passiert. Dort
erlebt Frau Engelmann die Dinge, die ihr die Wirklichkeit nicht bietet: Den
Schulalltag der Enkel, häusliche und berufliche Dramen von Eheleuten. Aber
all das ist weit weg. Die Welt der Kinder und Enkelkinder existiert nicht,
seidem ihre beiden Söhne fortgezogen sind.
„Hast du eine Tochter, dann bekommst du eine Familie“, erzählt mir Frau
Engelmann dann immer. „Hast du Söhne, dann gibst du sie weg und du bist
allein. So ist das!“
Auf ihren Reisen durch die Fernsehwelten erfuhr Frau Engelmann auch von
dem Zerimoniell, bei dem ein Urwaldstamm seine Verstorbenen einäschert und
die Asche der Toten, mit Früchten vermischt, gemeinsam verspeist. Die
Lebenden verleiben sich ihre Toten ein, sie behalten sie in sich. „Dieser Brauch
leuchtet mir ein“, sagt Frau Engelmann. „Aber soetwas ist in Deutschland
verboten. Hier darf man auch nicht die Urne mit der Asche als Möbelstück in
seiner Wohnung behalten. Das hätte ich gerne mit der Urne von Günther
getan“, erzählt sie. „Allerdings war es erlaubt, sich aus Günthers Asche einen
Diamanten pressen zu lassen. Und so habe ich ihn immer bei mir.“ Sie fasst
sich an ihren Anhänger, einen Diamanten. „Dieser Anhänger, das ist Herrn
Carolino, und die Diamantbrosche das ist mein Günther.“
Frau Engelmann hustet. Dann fragt sie mich, wann wir uns das erste Mal
gesehen haben.
„Das war irgendwann auf dem Wochenmarkt“, antworte ich. „Wir standen an
und kamen ins Gespräch. Daran erinnern Sie sich nicht?“
„Nein, ich habe kein Bild davon zurückbehalten. Auf den Markt geht man ja
auch jeden Samstag, nicht?!“
Das Gedächtnis bewahrt nur, was aus dem Rahmen fällt, denke ich. Frau
Engelmann wird mich vergessen.
„Trinken Sie mal einen Schluck“, sage ich. Dann verabschiede ich mich.
Ob ich jemals Frau Engelmanns rückwärtslaufendes Huhn oder sie selbst
vergessen werde, überlege ich, als ich nach Hause gehe.
Meine Frau schläft schon, als ich mich frage, was passiert, wenn ich tot bin.
Sie waschen mich und kleiden mich neu ein wie ein Baby. Nur dass ich davon
nichts mitbekommen werde. Alle Wärme wird dann aus mir gewichen sein. Ich
erinnere mich an die Abschiedsfeier von Hennis Mutter, meinem Schulfreund.
Als wir uns vor dem Beerdigungsinstitut trafen, war uns allen beklommen
zumute. Aber nach einer Weile versammelte sich die kleine Gruppe von
Verwandten und Freunden im Nebenraum, in dem Hennis Mutter hinter einem
Vorhang aufgebahrt lag. Wir umringten sie. Sie war größer, als sie noch lebte.
Im Tod zusammengeschrumpft, dachte ich. Wir Anwesenden hielten uns an den
Händen. Einige hatten die Augen geschlossen. Dann schlüpften die anderen
durch den Vorhang und verließen den Raum mit der Toten. Alleine stand ich
bei ihr. Neugierig streichelte ich den überraschend kalten Körper, fasste ihre
kalten Hände an.
Ein Schauer läuft durch meinen Körper, nun, wo ich im Bett liege und mich
daran erinnere. Ich schüttele mich, zittere. Meine Frau schnarcht leise. Ich
streichel mir über beide Handrücken und fühle die Wärme in meinem Körper.
Dann nehme ich vorsichtig die Hand meiner Frau. Sie ist ebenfalls warm. Kurz
stockt sie in ihrem Schnarchen, dann atmet sie wieder gleichmäßig. Wir sind
beide am Leben, wie schön, denke ich. Ich lege die Hand zurück, lege mich auf
den Rücken und verschränke die Arme hinter dem Kopf. Und wenn ich als
Gertrud wiedergeboren würde, denke ich. Dann könnte ich moonwalken. Mit
diesem Gedanken schlafe ich ein.

Alexander Posch