Loslassen und Halten: Kinder in die Schule begleiten

Vor zwei Wochen waren Einschulungen in Hamburg. Ein aufregendes Ereignis für Kinder und Eltern. Ein neuer bedeutender Abschnitt im Leben beginnt. Ist es das erste Kind der Familie, wird sich einiges in der Routine ändern. Wir müssen morgens eher aufstehen, pünktlich sein, an Brotdosen und Turnbeutel denken, Mittagessen bestellen, die Horthabläufe verstehen, Hausaufgaben begleiten. Das ist neu und herausfordernd.
Vor allem unsere Kinder brauchen Zeit, um sich an die neuen Erlebnisse, Abläufe und Anforderungen zu gewöhnen. Vielleicht kennen sie in ihrer Schule nicht einmal ein anderes Kind. Außerdem sind sie nun plötzlich wieder die „Kleinen“ auf dem Schulhof. Das kann verunsichern.
Gleichzeitig beginnen die Zähne in diesem Alter zu wackeln und die Vorpubertät oder „Wackelzahnpubertät“ beginnt. Im Gehirn der Kinder finden in diesem Alter hormonelle Umstrukturierungen statt, nicht unähnlich den Vorgängen in der Pubertät. Damit ist das Gehirn so gefordert, dass für „unwichtigere Dinge“ weniger freie Kapazitäten vorhanden sind. Plötzlich fallen den Kindern wieder Dinge aus der Hand, stolpern sie über die eigenen Füße und nicht zuletzt entgleitet ihnen auch die Laune immer wieder. Aus heiterem Himmel sind sie bedrückt, traurig, wütend oder übellaunig. Zusätzlich können sie in dieser Phase sehr sensibel sein, denn sie wissen selbst nicht, was mit ihnen los ist. Sie ärgern sich über ihre Missgeschicke, verstehen ihre Stimmungen nicht und haben noch keine Strategien, um mit Gefühlsschwankungen umzugehen. All dies kann einen kleinen Menschen schon einmal aus dem Gleichgewicht bringen.
Was Kinder nun brauchen, sind Verständnis, Sicherheit und das Gefühl, dass sie so geliebt werden, wie sie sind. Auch oder besonders dann, wenn sie schlecht gelaunt sind oder unsere Geduld auf die Probe stellen, weil keine Information bei ihnen anzukommen scheint. Mit Gelassenheit erreichen wir mehr als mit Tadeln und Strenge.
Es kann für Kinder sehr entlastend sein, wenn wir ihnen erklären, was gerade in ihrem Gehirn passiert. Vor allem, wenn sie hören, dass sie selbst nichts dafür können, dass sie zurzeit so ungeschickt sind oder ihnen die Laune in den Keller rutscht. Denn oft fühlen sie sich schuldig, besonders wenn sie geschimpft werden für ihre Unaufmerksamkeit. Vielleicht überlegen wir sogar gemeinsam Strategien, was bei schlechter Laune helfen könnte und wie es gelingen kann, sie nicht an anderen auszulassen. Wer jetzt gut in Verbindung mit seinem Kind bleibt, der:die schafft eine gute Basis für die spätere Pubertät.
Was den Schulstart angeht, so können wir unsere Kinder stärken, indem wir ihnen etwas Zutrauen, ihnen zeigen, dass wir ihre Fortschritte und ihr Heranwachsen sehen und gutheißen. Schaffen wir Gelegenheiten für Selbstwirksamkeitserfahrungen: Das Kind darf allein zum Postkasten oder zum Bäcker gehen, bei einem Freund oder einer Freundin übernachten, im Garten im Zelt schlafen. Etwas tun zu dürfen, das wie ein kleines „Abenteuer“ wirkt, das Gefühl vermittelt, stark und mutig zu sein, etwas aus eigener Kraft zu bewältigen und zu mehr Autonomie verhilft, fördert das Selbstvertrauen. Dieses Vertrauen kommt Kindern in der Schule zugute, wenn sie dort neue Situationen selbständig meistern müssen.
Gleichzeitig können wir ihnen zu Hause den sicheren Hafen bieten, den sie brauchen, wenn sie aus der neuen Umgebung Schule nach Hause kommen. Hier dürfen sie auch einmal Dampf ablassen, fünfe gerade sein lassen und nicht mehr kooperieren. Hören wir zu, statt auszufragen und seien wir in der Nähe, damit sie Gelegenheit haben, von sich aus zu erzählen, wenn sie möchten.
Das klingt einfacher als es ist, denn für uns Eltern bedeutet der Schulstart, unsere Kinder ein Stück loszulassen und darauf zu vertrauen, dass sie zurechtkommen werden. Wir bekommen kein tägliches Feedback mehr von Erzieher:innen darüber, wie der Tag war, ob das Kind gegessen hat, ob es mit Freunden oder Freundinnen gespielt hat. Da ist es nicht
immer leicht, sich mit (verhörenden) Fragen zurückzuhalten. Eine Idee ist es, nach der Schule eine gemeinsame Ankommenszeit zu gestalten, etwas zusammen zu essen oder gemeinsam zu lesen, einen Spaziergang zu machen. Vom eigenen Tag zu berichten, ohne Fragen zu stellen, ist ein schöner Gesprächsöffner. Unsere Kinder spüren, dass wir für sie da sind, dass sie gehört und gehalten werden und loslassen dürfen. Und wenn sie nichts erzählen, dann eben nicht. Kein Stress, kein Druck. Das tut gut.
Wie können wir Kinder unterstützen, die einigen Schulanforderungen noch nicht ganz gewachsen sind?
Das Buch Topfit für die Schule liefert tolle Ideen dafür, wie Kinder durch kleine, oft spielerische Aufgaben im Alltag Fertigkeiten trainieren können, die für die Schule gebraucht werden (soziale Kompetenzen, Merk- und Konzentrationsfähigkeit, motorische Fähigkeiten, usw.).
Zum Bespiel kann ein Kind sich 5-7 Dinge merken, die es im Supermarkt finden und in den Einkaufswagen legen soll. Das fördert die Konzentrationsfähigkeit in einem Raum, der durch Geräusche und interessante Dinge viel Ablenkung bietet. Socken zusammen legen trainiert die Feinmotorik, den Tisch zu decken spricht Struktur und Planungsfähigkeiten an.
Geeignet sind die Tipps für Kinder ab Vorschulalter und können auch im ersten Schuljahr noch unterstützen. Wichtig ist dabei, keinen Druck aufzubauen. Und wenn etwas noch nicht funktionieren sollte, keine Panik bekommen, sondern einfach spielerisch am Ball bleiben.
Zum Schluss noch ein paar Gedanken zu den jüngeren Geschwistern. Bei all der Aufregung um die Schule fühlen sich die „Kleinen“ oft in die zweite Reihe versetzt. Das ist kein schönes Gefühl und verständlich, wenn sie entweder verstärkt auf sich aufmerksam machen, mit allen (unbequemen) Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen oder sich zurückziehen. Einige Geschwister sind traurig darüber, dass der große Bruder oder die große Schwester nun nicht mehr mit ihnen in die Kita geht. Sie sind dort zum ersten Mal ganz auf sich gestellt. Es ist wichtig, dass wir Eltern sie sehen. In ihrer Trauer und in ihrer Entwicklung, in dem was sie Neues lernen und können. Schön wäre es, wenn sie einen Vorteil davon hätten, dass sie noch nicht in die Schule kommen. Vielleicht können wir ihnen morgens etwas mehr Zeit widmen, wenn wir mit ihnen allein zur Kita gehen oder sie an einem Tag in der Woche eher abholen, um Zeit mit ihnen zu verbringen. Dann hören wir nur ihnen zu, setzen ihre Vorschläge für Unternehmungen um und geben ihnen Gelegenheit, sich ganz ohne Konkurrenz groß oder klein zu fühlen, ganz egal. Eben das, was ihnen gerade guttut.
Übrigens: Nach den Herbstferien haben die meisten Kinder sich schon weitgehend an die neue Situation gewöhnt. Und wir Eltern uns auch.
Ich wünsche allen Eltern und Kindern eine wundervolle und aufregende Schulzeit!!!

Jessica Rother