Im Wendehammer


„Flammend blühen die Fuchsien im Sonnengleiß“ rezitiert Wuttke.

„Oh! Rainer Maria Rilke!“, sage ich. „Das habe ich lange nicht mehr gehört.“

„Der olle Rilke“, lächelt Wuttke. Wuttke ist ein Studienfreund meiner Frau.

Wir stehen im Wendehammer am Ende unserer Straße. Im Hammerrund blühen die großartigsten Forsythien des Hamburger Ostens. Ein Traum in Gelb. Davor die beiden schwarz ausgebrannten Autos. Die haben sich im vergangenen Monat zu einem kleinen Hype auf Instagramm entwickelt. Jugendliche fotografieren sich vor den Autoleichen, Jogger, Großmütter mit Hunden. Einige kommen aus Schleswig-Holstein angereist. Weltgeschichte en miniature.

Trotz des Feuers, der Löschspuren und des Polizeiabsperrbands sind die Fabrikate leicht zu identifizieren: Ein Porsche Cayenne und ein Ford Mustang. Das Kühlerpferd ist noch gut zu erkennen. Beide gehören dem Radiologen Dr. Islinghausen. In den letzten Jahren zogen immer mehr Wohlhabende an den Ostrand der Stadt.

Wuttke, meine Frau und ich beobachten einen Zaunkönig, wie er etwas Füllung aus der schräg in den Himmel ragenden, unversehrten Heckklappe von Islinghausens Porsche pickt.

„Zaunkönige bauen jedes Frühjahr bis zu neun Nester. Ihre Weibchen sind sehr wählerisch“, sagt Wuttke. „Die Autos - war das ein gelangweilter Feuerwehrmann?“

„Ich glaube, das ist nur ein Kollateralschaden“, sage ich. „Erst hat das Schilf gebrannt, dann hat das Feuer auf die Autos übergegriffen.“

„Hier gibt´s überhaupt kein Schilf“, sagt meine Frau. „Und warum sollte etwas, das es gar nicht gibt, gebrannt haben?“

„Die Behörde brennt die Rahlstedter Schilfbestände ab. Denn das Schilf ist der Ort, in den sich die Wildschweine gerne zurück ziehen. Und um die Afrikanische Schweinegrippe einzudämmen, wird es abgebrannt“, sage ich.

„Ich sehe hier nur Forsythien“, unterstützt Wuttke meine Frau.

„War ja nur so`ne Idee“, sage ich. „Jedenfalls weiß niemand, wer das gewesen ist. Seit einem Monat suchen die schon. Bei uns haben die auch geklingelt. Aber die Autos brannten nachts, und da haben wir geschlafen“, erzähle ich Wuttke.

Wir haben ein Jugendhaus in unserer Straße, in dem die Polizei den Täter vermutete. G20 und so. Außerdem durchsuchte sie die Wohnungen einiger ortsbekannter Neonazis. Zwar hätte man denen die Anschläge nicht zugetraut, aber man wollte deutlich machen, dass man sie auf dem Schirm hat. So stand es in der Zeitung. Gefunden hat die Polizei in vier Wochen nichts.

Wuttke geht zu einem der Laternenpfähle im Wendehammer. Dort hängt ein Plakat: „Rahlstedter, Mitbürger, Freunde!“, liest er vor. „Wir, ihre Polizei, wussten von einem möglichen Brandanschlag in der Stadt. Aber dass der Plan soweit abseits des Zentrums umgesetzt werden würde, überraschte uns. Wer Angaben zu den Tätern machen kann, melde sich. Herzlich Ihre Polizei. Und dann eine Telefonnummer. Wer hat das denn formuliert?!“

Inzwischen ist wieder eine Gruppe Fahrradfahrer angekommen, die sich vor den Autos verewigt. Und wie jeden Tag spaziert der alte Herr mit seinem Spaniel durchs Wendehammerrund. Ein Anwohner, der seinen Hund täglich die angeschmolzene Felge markieren lässt.

Wir gehen rüber in unseren Garten. Es ist sonnig, es hat genügend geregnet. Ideal für ein Erblühen des Gartens - allein: Wir haben eine Nacktschneckenplage. Alles Angepflanzte ist bis auf wenige Zentimeter abgenagt.

Wuttke weiß ein Rezept gegen Nacktschnecken, hatte mir meine Frau gesagt. Deshalb ist er zu Besuch gekommen. Während er zur Bestandsaufnahme in unser abgefressenes Staudenbeet tritt, erzählt mir meine Frau: „Wuttkes Rezept sind nicht die üblichen indischen Laufenten. Die vertilgen zwar die Schnecken, aber die verunreinigen unseren Garten mit ihrem gipsartigen Kot. Keine Ornithologin wird dir jemals indische Laufenten empfehlen“, zwinkert sie mir zu. „Thomas´ Methode stammt von dem Stamm, bei dem er gelebt hat. Wo warst du nochmal, Thomas?!“

Wuttke kommt aus dem Kahlfraßbeet zurück auf den Rasen. „Ich war ein Jahr im Hochland von Neuguinea bei den Enga. Einige von denen lassen einen Wurm für sich jagen. Den Neuguinea-Plattwurm. Aber der frisst dann wirklich ALLE Schnecken. Und dann muss man dem Wurm die Schnecken wieder irgendwie abjagen. Kein Spaß! Na, jedenfalls fangen die Enga Schnecken und lassen die dann vier Tage lang hungern, damit sich der Darm entleert. Später salzen sie sie ein und verspeisen sie bei Ritualen in der Gruppe. Eine Delikatesse! Ich lege sie nicht in Salz, sondern in Zucker ein: Kandierte Nacktschnecke zum Tee.“

„Oder zum Espresso?“, schlage ich vor. Wuttke nickt und holt eine Plastikdose aus seinem Rucksack.

„Ein hermaphroditisches Wesen

wär’ mir was Apartes gewesen,

da fand ich ’n Ding

das bei mir nicht verfing,

an diesem befremdlichen Wesen“, rezitiert er schon wieder ein Gedicht.

„Wieder Rilke?“, frage ich.

„Shakespeare“, antwortet er und lächelt schelmisch. „Wollt ihr mal  probieren?!“ Mit spitzen Fingern nimmt er etwas Ingwerwurzelartiges aus der Dose.

„Ich mach uns mal schnell ‚nen Espresso“, sage ich und verschwinde im Haus.

Abends sehen meine Frau und ich wie immer die Regionalfernsehsendung ‚Der Tag in Hamburg‘.

„Guck mal, unser Wendehammer“, sage ich. Eine Stimme aus dem Off sagt, dass ein 67 Jahre alter Rentner im Rahlstedter Supermarkt mit seinen Taten geprahlt hat. So ist man dem Täter auf die Spur gekommen. Aus Neid hat er die Autos angezündet.

Vor der gelb glühenden Blütenwand, vor der wir heute selbst mit Wuttke standen, wird eine alte Dame interviewt. Die Stimme aus dem Off sagt: Der Brandstifter von Rahlstedt ist gefunden und hier ist seine Frau im Exklusivinterview.

„Wie konnte es dazu kommen?“, wird die Frau von einem Reporter gefragt. Sie antwortet: „Unverdient sei Dr. Islinghausen an den Porsche gekommen, hat mein Mann gesagt. Der ist doch korrupt, der Islinghausen, hat er gesagt. Wie kann der sich denn ständig neue Luxuskarossen leisten?! Der ist doch auch nur Arzt. Und als er mit Karl-Gustav, unserem Spaniel, die nächtliche Runde machte, und dabei im Wendehammer schon wieder neue Modelle stehen sah, da ist es wohl über ihn gekommen. Aber er hat es mir auch erst eine Woche später gestanden.“ Die Frau schüttelt den Kopf. „Dass er sich auch immer mit den anderen vergleichen muss. Und dann vom Gefühl her schlecht abschneidet. Ich habe nur den alten Daimler und immer dieselbe  graue Frau, statt junger, blonder Freundinnen, sagt er immer. Ich dachte, dass er das so im Spaß sagen würde. Manfred ist doch immerhin Ingenieur. Uns geht es doch gut!“

Dann sieht man den Reporter mit dem Sprecher der Polizei. „Die Verhandlung über den bislang nicht Vorbestraften wird voraussichtlich im nächsten Monat stattfinden“, sagt der Polizeisprecher.

Als meine Frau den Fernseher ausschaltet, frage ich sie, ob ich noch eine von den Zuckerschnecken haben kann.

„Was für ein apartes Ding sich bei mir verfing“, zitiert meine Frau Shakespeare oder Wuttke und reicht mir die geöffnete Dose.

Alexander Posch