Im Wäldchen

„Rasier‘ dich und zupf‘ dir auch die Augenbrauen“, bittet mich meine Frau. Wir machen uns fertig,
als würden wir zu einem Konzert in die Elbphilharmonie gehen. Sehen und gesehen werden.
Meine Frau schminkt sich. Ich habe ihr einen neuen Lidschatten mitgebracht, neontürkis mit
Bronzeglitter. Neontürkiser Bronzeglitter ist nicht der Stil meiner Frau, aber in dieser ereignislosen
Zeit bringe ich ihr jedes Mal etwas anderes mit aus dem Supermarkt. Letztes Mal hatte ich ‚Die
flotte Lotte‘ dabei. In der Hygieneabteilung entdeckt. Als wir die Batterien eingelegt hatten,
bewegte sich die Lotte wackelig über die Matratze. Ein zuckender, rosaroter Plastiklappen mit
Noppen. Wir lachten und ließen dann alles beim Alten. Nun also Disco-Lidschatten und gezupfte
Augenbrauen.
So schick gemacht gehen wir ins nahe Wäldchen, das in der Pandemie zum Zentrum unseres
Lebens geworden ist. Es ist der erste Montag im Januar, Zeit für meine Ornithologen-Frau die
monatliche Vogelzählung durchzuführen.
Am Wäldcheneingang überholt uns Frau Engelmann mit neuen Nordic-Walking-Stöcken. Begeistert
hebt sie die bojen-orangen Stöcke in die Höhe. „Ich mache mal ‚ne Runde“, sagt sie. Das Wäldchen
liegt unbelaubt da. Nur wenige Nadelbäume und Eiben geben etwas Sichtschutz. Die Wege sind
vollkommen überlaufen. Weil man nicht Böllern durfte, liegt nun nach Silvester viel weniger Abfall
herum, als in den Vorjahren. Ich denke, ob ich irgendwo Leichenteile entdecken kann, die jemand
zu Neujahr loswerden wollte. Wie immer halte ich Ausschau nach dem Bösen. Aber durchs graue
Geäst sehe ich nur schwatzende Menschen in grellbunter Skibekleidung. Die Besucherhorden haben
viele zusätzliche Wege ins Unterholz getrampelt. Und nirgendwo Leichenteile. Genauso wenig wie
Vögel.
Wir gehen an den Waldrand. Dort liegt die ehemalige Weide. An ihrer Stelle befindet sich nun ein
Binsen umstandener künstlicher Tümpel mit Hügeln drumherum. Hügel und Tümpel wurden als
Ausgleich für die angrenzende würfelkompakte Neubausiedlung geschaffen. Wegen des
Klimawandels nutzten im letzten Jahr einige Flamingos diesen Tümpel erstmalig als
Zwischenstopp. Aber heute bekommen wir keine Flamingos zu Gesicht. Meine Frau und ich lehnen
am Gatter. Neben dem Tümpel macht eine Thai-Chi-Gruppe ihre Übungen. Ihre Matten liegen weit
auseinander. In den Schwarzerlen dahinter schimpft der Kolkrabe. Meine Frau holt ihren Block
heraus. Lächelnd macht sie ein Kreuz ins Kästchen hinter ‚Kolkrabe‘. Das Kästchen hinter
‚Flamingo‘ lässt sie leer. Ich selbst habe die Flamingos nicht gesehen. Aber meine Frau hatte mir
ein Foto gezeigt. Wie sie da grau und unfrisiert am Tümpel standen. Und es deutlich war, dass sie
nicht in unsere Breiten gehören. Auf dem Foto sahen sie mehr nach Graureihern aus. Wir drängeln
uns durch eine Gruppe Radfahrer und gehen weiter.
„Ich habe gerade ein Buch gelesen, wo sie um so ein Wäldchen - allerdings war das ein Wäldchen
voller jüdischer Flüchtlinge - einen Stacheldraht gezogen haben. Und dann kam die SS mit
Maschinengewehren…“, fange ich an zu erzählen.
„Guck mal, ein Rotkehlchen“, sagt meine Frau. Sie macht ein Kreuz in ihre Liste. Das Rotkehlchen
hüpft vor uns über den Weg. Es dreht den Kopf etwas zur Seite und blickt uns an. Der Vogel hat
beeindruckend dünne Beinchen. Dann noch eine Amsel, die über den Weg rennt. Eine
Meisenfamilie und ein Kleiber. Und plötzlich steht uns der Stadtteil-Jäger im Weg. In grüner
Jägerweste, das Gewehr über der Schulter. Er nickt uns zu. Im selben Augenblick platzen seine
Hunde aus dem Unterholz. Sie bellen und fallen aufgeregt übereinander. „Jungs! Jetzt seid doch mal
still!“, sagt der Jäger zu den Hunden. Die setzen sich auf die Hinterläufe, ihre Ohren gespitzt. Dann
erst sehe ich das Seil, das der Jäger in den Händen hält. Das Seil verschwindet im Gebüsch. Leise
sage ich zu meiner Frau: „Jäger ist man nicht zufällig. Jäger wird man, um zu schießen. Schon
Tschechow sagte, ein Gewehr ist zum Schießen da“
Der Jäger hebt einen Finger und guckt seine Hunde an. Er zieht am Seil. Als am Seilende ein halb
zerfetzter Teddybär auf dem Weg erscheint, stürzen sich die Hunde auf das Stofftier. Wieder purzeln
sie übereinander. Erneut fordert der Jäger sie auf, sich zu benehmen. Plötzlich wie versteinert sitzen
die Hunde da. Mit heraushängenden Zungen. Ich denke an die flotte Lotte. Was wir da aufschreiben
würden, fragt uns der Jäger und streckt seine Hand nach dem Block meiner Frau aus. Die hält ihn
weit von ihm weg und antwortet ihm wissenschaftlich. Ich mache ein weiteres Kreuz in meine
Liste. Ich habe eine andere Liste als meine Frau. Ich setze ein Kreuz ins Kästchen hinter dem Wort
‚Jäger‘. Schon mein fünftes Kreuz: NordicWalker, Skijackenträger, ThaiChiTurner, Radfahrer und
nun Jäger.
Weil wir den Weg blockieren, drängelt sich bunt gekleidetes Volk zwischen uns hindurch. Der Jäger
nuschelt etwas und zeigt in Richtung Flamingotümpel. „Buntspecht“, sagt meine Frau und macht
ein Kreuz. Als sich der Jäger einige Schritte entfernt hat, frage ich meine Frau, ob sie verstanden
hat, was er zuletzt gesagt hat.
„Hat er nicht ‚Schwulenwiese‘ gesagt?!“, antwortet sie. „Sieh mal! Da drüben! Ein Baumläufer und
ein Stieglitz!“ Begeistert macht sie zwei Kreuze. Für mich ist bis zu Hause nichts mehr dabei. Nur
noch Skijackenträger.
Als wir durch die Gartenpforte treten, fängt es an zu schneien. Dicke Flocken, die mir sofort den
Mantel bedecken und sein Blau weiß färben. Meine Frau stupst mich an und lächelt.
Dann hören wir einen Schuss. Es ist nicht klar, ob er aus dem Wäldchen kommt oder vom
Fußgängertunnel unter der Bahnstrecke, wo die Stadtteiljugend am liebsten böllert, weil es dort am
lautesten hallt.
„Wo war das?“, frage ich. In meinem Kopf erscheinen Bilder, wie der Vesuv ausbricht und Pompeji
mit Asche bedeckt. Wie meine Frau und ich im Lavagas ersticken.
„Nehmen wir einfach an, der Knall kommt von den Jugendlichen, die ihre Restböller verballern“,
schlägt sie vor.
Ich denke, ich sollte nicht so negativ sein, und lasse Vesuv und Pompeji aus meinem Kopf
verschwinden.
„Was denkst du?“, fragt mich meine Frau.
„Wer heute von uns gewonnen hat. Ich habe fünf Kreuze!“
Meine Frau wedelt mit ihrem Block und lächelt ihr Siegerlächeln.

Alexander Posch