Geschwisterkonstellationen: Warum unsere Kinder so unterschiedlich sind, selbst wenn wir sie gleich behandeln

Eltern sind manchmal ratlos, wenn sie sich bemühen, ihre Kinder gleich zu behandeln und trotzdem ein „unfair“ zugerufen bekommen. Irritierend ist auch, dass wir nach dem ersten Kind dachten, wir wüssten, wie es geht und das Zweite macht alles ganz anders und stellt uns vor neue Herausforderungen. Warum ist das so?
Eine Erklärung bieten die Erkenntnisse über Geschwisterkonstellationen aus der Individualpsychologie. Vielleicht erkennen wir unsere Kinder, Geschwister oder uns selbst darin wieder.
Erstgeborene
Waren lange Zeit das einzige Kind und genossen die volle Aufmerksamkeit der Eltern (und Großeltern). Folgt ein Geschwisterchen, schubst es das Erste vom „Thron“. Die Aufmerksamkeit der Eltern muss nun geteilt werden. Das kann entmutigen. Das Kind wird evtl. „schwierig“. Es kann zur Konkurrenz mit dem kleinen Geschwisterchen kommen, bis hin zu Ablehnung.
Erste setzen oft alles daran, Erste zu bleiben. Es kann dazu neigen, Chef:in zu spielen und zu kritisieren, auch die jüngeren Geschwister. Die Kleinen können sie auch dazu treiben und gegen die Eltern ausspielen, die dann das erste Kind schelten, weil es das Jüngere immer kritisiert.
Die Ersten wollen oft in allem gut sein und sind perfektionistisch. Diese Sicht kann frustrierend sein: „Wenn ich nicht perfekt bin, bin ich nichts wert.“ Ihnen wird oft viel Verantwortung übertragen, wodurch sie nicht selten auch ein hohes Verantwortungsgefühl entwickeln. Es ist möglich, dass Ordnung und Kontrolle für sie wichtig sind. Jüngere Geschwister können ihr Bedürfnis nach Kontrolle ziemlich durcheinanderbringen.
Zweitgeborene
Haben immer älteres Geschwisterchen vor sich, das schon alles besser kann. So steht es in einem Konkurrenzverhältnis, vor allem wenn es kurz nach dem Ersten geboren wird. Das kann frustrieren oder zu starkem Ehrgeiz führen. So entwickelt sich der:die Zweite oft rasch und versucht unbewusst, das Erste einzuholen. Ist das Erstgeborene den Wettkampf leid und „gibt auf“, kann es vom Zweiten überholt werden. Dann kann sich die Position umkehren und das Zweite nimmt die Rolle des Ersten ein, was das erste Kind entmutigen kann.
Die kleineren Geschwister suchen sich oft Nischen, die der:die Große noch nicht besetzt hat und bilden dort ihre Stärken aus. Sie neigen also dazu, sich entgegengesetzt zu entwickeln. So sind das erste und das zweite Kind häufig sehr unterschiedlich in Interessen, Charakter und Stärken, vor allem, wenn es sich um gleichgeschlechtliche Geschwister handelt.
Mittlere
Das zweite Kind kann zum Mittleren werden, wenn ein Geschwisterchen folgt. Es kann demnach Charakterzüge des zweiten und des mittleren Kindes haben.
Mittlere Kinder haben manchmal weder die Rechte des älteren noch die Vorteile des jüngeren Geschwisterchens: „Die beiden Großen räumen jetzt den Tisch ab und dann gehen die beiden Kleinen ins Bett.“ So könnten sie die Welt als ungerecht empfinden und zum „Schmollen“ neigen. Andererseits entwickeln sie oft ein gutes Gespür für Recht und Unrecht und können
gut vermitteln, beschützen und sich kümmern. Es ist möglich, dass sie sich mit dem älteren oder jüngeren Kind verbünden. Das kann dann schwierig werden für das übrige Kind.
Häufig gleicht das dritte mehr dem ersten Kind in Charakter und Interessen. Das mittlere Kind ist oft anders, vor allem bei gleichgeschlechtlichen Geschwistern.
Jüngste
Sind oft charmant uns können andere für sich einnehmen, manipulieren und in ihren Dienst stellen. Es kann sich die größeren Geschwister genau anschauen und herausfinden, wie es bei den Eltern gut durchkommt und sich wenig „Ärger“ einhandelt. Das Älteste möchte Chef:in sein, aber das Jüngste ist es oft. Jüngste können ein schauspielerisches Talent entwickeln und uns durch ihr Lächeln bezaubern. Allerdings werden sie manchmal verwöhnt und klein gehalten. So können sie das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden. Sie können Schwierigkeiten haben, sich zu entscheiden, da oft andere für sie entscheiden. Ihnen wird seltener Verantwortung übertragen. Dadurch haben sie manchmal Schwierigkeiten, Dinge zu Ende zu führen.
Einzelkinder
Entwickeln oft ein Gefühl, etwas Besonderes zu sein, auch wenn sie nicht sehr verwöhnt werden. Sie können Charakteristika von erstgeborenen und jüngsten Kindern zeigen, indem sie z.B. Verantwortung tragen und selbständig sind aber auch andere für sich einnehmen und Aufgaben an sie abgeben können. Manchmal fühlen sie sich zuständig dafür, was mit Mama und Papa geschieht, auch im Erwachsenenalter.
Einzelkinder haben gerne Zeit für sich, wirken oft älter als sie sind und können manchmal nicht verstehen, warum sich Gleichaltrige so kindisch verhalten. Oft können sie gut mit älteren und jüngeren Menschen umgehen, mit Gleichaltrigen kann es zu Schwierigkeiten kommen.
Es kommt vor, dass ein Einzelkind mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil um die Aufmerksamkeit des anderen Elternteils konkurriert.
Zwillinge
Zweieiige Zwillinge können konkurrenzbetont miteinander umgehen, ähnlich wie Erst- und Zweitgeborene.
Eineiige Zwillinge sind oft konkurrenzlos mit einer Neigung zur Symbiose. Sie haben keine große Notwendigkeit mit anderen in Kontakt zu treten, denn sie sind nicht einsam und werden vom Geschwisterchen verstanden. Oft werden Zwillinge nicht einzeln angesprochen oder gesehen.
Die Ziele sind unbewusst
Diese Beschreibungen müssen nicht auf alle Menschen zutreffen, vor allem, da es heute vielfältigere Familienkonstellationen (z.B. Patchwork- oder Regenbogenfamilien) gibt als zur Hochphase der Individualpsychologie.
Wichtig zu wissen ist: Die Ziele, die Kinder mit ihren Bemühungen erreichen möchten, sind ihnen nicht bewusst. Jüngste Kinder nehmen sich nicht vor, uns zu manipulieren. Es kann passieren durch ihre charmante Art und weil sie durch Beobachtung der Großen herausfinden, was bei uns zieht. Kinder entscheiden auch nicht bewusst, mit Geschwistern zu konkurrieren.
Jedes Kind möchte dazugehören, einen Platz in der Familie finden und gesehen werden. Je nachdem wie ein Kind seine Situation in der Familie wahrnimmt und bewertet, entwickelt es andere Strategien, um seinen Platz zu finden. Ist meine große Schwester verantwortungsbewusst, gut in Deutsch und Mathe und hält sich an alle Absprachen, habe ich wenig Chancen, an diesen Stellen auch zu punkten. Sinnvoller ist es, wenn ich Begabungen im kreativ-musischen Bereich entwickle, etwas aufmüpfiger bin und mich entspannt zurücklehne, wenn Aufgaben verteilt werden.
Wie Kinder ihre Lebenssituation bewerten, kann sehr unterschiedlich sein, selbst wenn Eltern versuchen, sie gleich zu behandeln. Ein Beispiel macht es deutlich: Einer Mutter war es wichtig, ihren Zwillingen viel Freiraum zu gewähren, weil sie es als Kind anders erlebt hatte. Die eine Schwester sagt heute: „Ich hatte eine tolle Kindheit, durfte mich ausprobieren und tun, was ich wollte.“ Die zweite Schwester sagt: „Ich fand es schrecklich. Ich fühlte mich oft allein und nicht unterstützt.“
Wie können wir unsere Kinder unterstützen?
Jede Position bietet Anhaltspunkte zur Entwicklung von Stärken und Schwächen. Jede Stärke kann aber zur Last werden, wenn sie zu ausgeprägt ist, wenn wir uns z.B. zu verantwortlich fühlen und nicht „Nein“ sagen können. Zu wissen was die Geschwisterposition bewirken kann, fördert das Verständnis für unsere Kinder. Wir können außerdem erkennen, womit wir (unbewusst) dazu beitragen, dass sich Verhaltensmuster verfestigen und entgegenwirken, indem wir Kindern die Chance geben, andere Stärken zu entwickeln.
Wir könnten Jüngsten und Mittleren mehr Verantwortung geben. Das kann sie ermutigen und das Älteste entlasten.
Wir könnten Jüngsten helfen, Aufgaben zu Ende zu führen, sie entscheiden lassen und gezielt nach ihrer Meinung fragen.
Wir könnten Ersten den Druck nehmen, perfekt sein zu wollen und vorleben, wie man Fünfe gerade sein lässt.
Das Beste jedoch was wir tun können ist, die Fähigkeiten jedes einzelnen Kindes zu erkennen und wertzuschätzen und sie genauso zu lieben, wie sie sind.

Jessica Rother