Helga Bier, so wurde die Frau genannt, die ihnen den Platz zuwies. Es waren einfache Holzbänke, man saß zu zweit auf einer Bank, weit genug voneinander entfernt, so dass sich die Ellenbogen nicht berührten.
Die Bänke waren nach vorne ausgerichtet, wo Helga Bier auf einem einzelnen hölzernen Schaukelstuhl saß wie eine billige Königin.
Am Nagel eines Deckenbalkens über ihr war ein Transistorradio befestigt, aus dem beschwingte folkloristische Musik kam.
Um den Schaukelstuhl verteilt standen einige Windlichter. Das Poster hinter ihr an der Wand war nur schlecht beleuchtet. Auf ihm waren die unterschiedlichsten Strickarten dargestellt: Rechts, links, Strukturmuster, Patent, die arabische Reihe, die halbe Perle, die vollendete Perle, Ajour.
Von drei Reihen bebilderter Strickarten kannte Maria nur das linke und das rechte Stricken.
Ihre Kollegen aus dem Büro hatten ihr ein Strickwochenende geschenkt. Wie immer war es ein Verlegenheitsgeschenk gewesen – die männlichen Kollegen bekamen zu jedem Geburtstag eine Krawatte, die Frauen erhielten ‚ein Präsent der Saison‘, also einen Yogakurs oder eine Einführung ins Intervallfasten. Und als Maria Geburtstag hatte, berichteten die Blogger und Frauenzeitschriften gerade vermehrt über die neue Trend-Handarbeit Stricken.
Maria erinnerte sich, dass sie das letzte Mal bei Frau Melzer in der vierten Klasse gestrickt hatte. Dies war überhaupt das einzige Mal gewesen, dass sie gestrickt hatte. Sie strickte einen dunkelblauen Schal für ihren Vater. Als sie eine Masche fallen ließ, ribbelte der Schal auf. Ihre aufmerksame Lehrerin nahm die Masche weiter unten notdürftig wieder auf, aber der Schal sah aus, als hätte eine Motte an ihm gefressen.
Marias Vater freute sich über das Geschenk, so wie sich ein Vater über etwas Selbstgemachtes seiner Kinder freut. Dann wusch Marias Mutter den Schal zu heiß und er schnurrte auf die Hälfte seiner Größe zusammen, schließlich war er ganz verschwunden.
‚Bitte unbedingt Arbeitskleidung anziehen‘, stand auf dem Anmeldeformular für das geschenkte Strickwochenende.
So war Maria nicht allein mit ihrer schlecht sitzenden Kleidung. Sie hatte ihre Malkleidung aus der untersten Schublade des Schranks angezogen: Ein grotesk großes, weiß besprenkeltes Männerhemd, das sie einmal auf einem Clownlehrgang bekommen hatte sowie eine fleckige Jeans, die ihr kaum noch passte, wie sie beim Hineinschlüpfen feststellte. Die Renovierung ihrer Wohnung lag einige Jahre zurück, Maria ließ den obersten Knopf offen stehen.
Die anderen Frauen trugen ebenfalls Unmögliches. Besonders beeindruckt war Maria von einer Frau mit einem Einteiler. Der Einteiler war kakifarben und mit goldener und rosa Farbe bespritzt. Auf dem Kopf trug die Frau eine ausgefranste orange Schülerlotsenmütze. Aber hier ging es um ein Handarbeitswochenende, nicht um einen Kurs zum Flirten.
Welch ein Glück, dachte Maria, denn ihre Kollegin Mandy bekam vor zwei Jahren einen Flirtkurs zum Geburtstag geschenkt und hatte sich nach diesem Wochenende einen anderen Arbeitsplatz gesucht.
Wie dem auch sei, die am Strickkurs teilnehmenden Frauen, die sich schließlich auf dem Bahnsteig in der Lüneburger Heide sammelten, waren durch die Art ihrer Bekleidung schon im Zug zu erkennen gewesen.
Spätestens am Treffpunkt, der an eine rasch zusammengezimmerte Theaterkulisse erinnerte, war dem knappen Dutzend Frauen klar, dass sie alle stricken würden, denn außer ihnen verließ kaum jemand den Zug. Es war Hauptverkehrszeit, Freitagnachmittag. Mit ihnen stieg nur noch ein Mann aus, der einen Käfig voll zischender Marder dabei hatte. Trotz der Größe des Käfigs war der Mann sogleich auf einem der Sandwege verschwunden, ebenso schnell, wie die beiden Jungen, die im Jugendslang miteinander sprachen und sich mit ihren Handys beschäftigten.
Die verbliebenden Frauen unterhielten sich lebhaft über das bevorstehende Seminar. Kein Mann war dabei. Maria wunderte sich nicht darüber. Suspekt hatte sie gefunden, dass auf dem Anmeldeformular weder eine Adresse noch eine Telefonnummer gestanden hatte, einzig diese abgelegene Haltestelle war dort als Treffpunkt genannt worden.
Aber Maria fühlte sich wohl in der Gruppe, und als eine Frau aus dem Dämmerlicht neben dem Bahnhofsunterstand trat, um sie zu begrüßen, verließen Maria jegliche Zweifel.
Maria saß im Dämmerlicht des Raumes und strickte nach den Anweisungen der sanft vor und zurück schaukelnden Helga Bier.
‚Pullover – Kindergröße 136, halbe Perle‘, hörte Maria. Erst war sie unsicher, wie sie beginnen sollte. Sie sah nach links zu ihrer Banknachbarin, die sofort zu arbeiten begonnen hatte, dann strickte auch sie los, anfangs immer noch einmal mit einem Blick zur Seite, um ihre Technik zu verbessern.
Jede der Kursteilnehmerinnen hatte einen geflochtenen Korb mit einem Haufen von Wollknäueln neben der Bank stehen. Angenehm drang das Klappern der Stricknadeln an Marias Ohr, vermengt mit dem leisen Radio und verschiedenen Geräuschen, die aus einem Raum hinter Helga Biers Schaukelstuhl kamen. Drängende Geräusche, ein dauerndes gedämpftes Klopfen und Schaben und Mähen.
In ihrem zu großen Hemd fühlte sich Maria frei. Sie arbeitete schnell und verfiel durch die verschiedenen Geräusche bald in eine Art Trance.
„Habt ihr etwas fertig?“, fragte Helga Bier in regelmäßigen Abständen. Wurde ihr ein fertig gestricktes Teil gemeldet, dann rutschte ein kleiner Hund unter den Bankreihen entlang, nahm die Strickarbeit vorsichtig ins Maul und trug sie nach vorne zu seiner Herrin. Diese begutachtete sie und besserte eventuelle Schwächen aus. Der Raum war gefüllt mit einer Atmosphäre äußerster Konzentration.
Maria spürte ihrem Atem nach und strickte wie im Traum. Sie merkte, dass sie nicht mehr an dem Pullover strickte, mit dem sie begonnen hatte, auch einen Babystrampler hatte sie wohl in diesem schlafähnlichen Zustand vollendet, nun war sie mit einer großen Decke beschäftigt. Sie atmete ein und aus.
Eigenartig fand sie nur, dass sich niemand miteinander unterhielt - unterhalten durfte. Kam es vor, dass zwei Strickerinnen ein Gespräch begannen, dann wurde das Radio lauter, so laut, dass es in den Ohren schmerzte. Verstummten daraufhin die Anwesenden, regulierte sich die Lautstärke des Radios wieder auf eine angenehme Zimmerlautstärke.
Maria hielt den Mund. Sie folgte ihrem Atem und strickte. Je nach Größe des geforderten Kleidungsstücks, je nach seiner handwerklichen Schwierigkeit vollendete sie Stück um Stück und überließ es dann dem apportierenden Hund.
Immer weitere von Helga Bier geforderte Strickvorgaben säuselten an ihr Ohr. Das Radio lief ohne Unterlass. Ab und zu schlief Maria ein. Anhand des Dämmerlichts im Raum war es nicht zu erkennen ob es noch Tag oder schon Nacht war. Maria glaubte, es sei Nacht, denn außer einem dünnen Ton, der sich wie ein leise rieselnder Bach anhörte, bemerkte sie nichts. Keine Befehle oder Fragen von Helga Bier, die eher für den Tag sprachen, kein Hund, der unter die Bänke schlüpfte. Dann aber sagte doch wieder eine Stimme von vorne ‚links, links, links‘ nur dieses Mal in einem etwas langsameren Tempo: ‚Patent, kurzes Abendkleid‘. Sie empfand die Stimme so schön wie ein Wiegenlied.
Doch irgendwann bemerkte Maria, dass ihre Haare matt wurden. Sie fielen ihr nicht mehr so leicht auf die Schulten. Sie roch daran. Ihre Haare waren fettig. Sie überlegte, wann sie zuletzt geduscht hatte. Ihr ganzer Körper fühlte sich so an, als habe sie bereits eine ganze Woche in dem Zimmer verbracht. Wie konnte das sein? Allerdings drangen neben dem Fettgeruch ihrer Haare auch die Gerüche der mit ihr Arbeitenden in die Nase. Aber all das war ihr nicht wirklich unangenehm. Es war warm, sie bekam regelmäßig zu essen und zu trinken und auch die Holzbänke waren viel bequemer, als Maria zunächst vermutet hatte.
Fand sie sonst manche Nacht in ihrem eigenen Bett nicht gut in den Schlaf, weil die Dinge des Lebens sie noch beschäftigten, so konnte sie hier im Strickkurs hervorragend schlafen. Im Sitzen und auf der harten Holzbank. Und von einem Moment auf den anderen.
Für die Notdurft wurde eine Schüssel durch die Reihen gereicht, ähnlich wie der Korb für die Kollekte in der Kirche, in den jeder etwas hineinlegen konnte. Maria schämte sich beim ersten Mal. Was ist denn das für eine Idee?!, dachte sie. Ja, wenn sie einen Rock angezogen hätte, so wie ihre Banknachbarin. Aber einige Zeit später, als die Schüssel wieder durch die Reihen ging, gelang es ihr sich aus der Hose zu schälen und nach getaner Verrichtung reichte sie die Schüssel nach hinten weiter. Alles war im Fluss. Maria fühlte, dass Raum und Zeit eine Einheit bildeten. Unentwirrbar. Der ewige Frieden. Maria ließ sich treiben, strickte und atmete. Nickte ein.
Genau in dem Moment, als sich die Wand hinter Helga Bier - ähnlich wie eine automatische Garagenwand - öffnete und die Schafherde in den Raum strömte, erwachte Maria aus traumlosem Schlummer.
Schafe streiften durch die Reihen. Ein besonders vorwitziges sprang zu Maria auf die Bank und legte sich eingekuschelt zwischen sie und ihre Nachbarin. Warm war das Schaf und es roch streng.
Fast im selben Augenblick erhellte ein greller Blitz den Raum und das Radio klang fremdländisch. Die polkaeske Musik verzerrte, der Takt wechselte, die Stimmen der Singenden leierten. Dann verstummte das Radio, Funken sprühten um den Nagel am Deckenbalken. Maria sah, wie der Schatten eines Schafs zu Boden fiel.
Aber dann verliefen die sich an den Zwischenfall anschließenden Stunden so harmonisch wie immer. Man strickte, der Hund holte sich die fertige Ware, das Radio surrte im Wechsel mit der Schermaschine, mit der Frau Bier die Schafe schor. Nur die nächste Mahlzeit ließ Maria aus, denn auf jedem Teller lag ein großes Fleischstück. Maria war Vegetarierin.
Ist es dasselbe Schaf, das sich nun wieder zu mir legt, überlegte Maria, als ein nacktes Schaf neben sie auf die Bank drängte. Zwar gab auch das nackte Tier Wärme ab, aber wollige Schafe waren Maria eindeutig lieber. Sie strickte und dusselte wieder weg.
Als sie wieder einmal aufblickte stand die Doppelflügeltür des Raumes weit offen, Sonnenstrahlen fielen ins Zimmer, Staub und Wollfasern tanzten in der Luft.
Außer Maria befand sich niemand mehr im Raum. Der Schaukelstuhl war leer, das Radio abgestellt, alle Kursteilnehmerinnen und alle Schafe waren verschwunden. Maria streckte sich. Sie schüttelte ihre Beine aus.
Auf dem Weg zur Tür kam sie an einem Tischchen vorbei. Auf einer Wollarbeit lag ein Zettel mit ihrem Namen. Ich hoffe sehr, Sie einmal wieder bei mir begrüßen zu dürfen!, las Maria. Außerdem gab es eine 10er-Sammelkarte. 10 Mal zahlen, elf ist für umme, stand oben auf der Karte. Das erste Kästchen war mit einem Stempel versehen.
Maria faltete das Kleidungsstück auseinander. Ihr Blut pumpte schneller. Es war ein Pullover mit einem flammenden Herz auf der Vorderseite. Alles mit kräftigen Farben gestrickt: rot und gelb und schwarz auf grauem Grund.
Habe ich den Pullover selbst gestrickt?, überlegte sie. Sie wusste es nicht.
Beseelt trat Maria aus der Tür in die Sonne. Da sie niemanden im Garten traf, ging sie zum Bahnhof. Auch dort war sie allein. Gerne hätte sie sich mit einer der anderen Strickerinnen unterhalten. Was die wohl als Geschenk für das Wochenende erhalten hatten? Und wie gerne hätte sie sich bei Helga Bier bedankt!
So zog sie sich den Pullover über und fuhr durchdrungen von guten Gefühlen nach Hause. Dort angekommen, fiel sie sogleich ins Bett.
Am nächsten Morgen wurde Marias Pullover bewundert. Maria strahlte. Wortreich bedankte sie sich bei den Kollegen. Wie großartig war dieses Wochenende gewesen, und dass sie das Strickseminar als nächsten Betriebsausflug vorschlagen würde – denn: „Glücklich allein ist die Seele, die strickt."