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Auf der Suche nach dem Wir-Gefühl
„Geh einkaufen“, sagt meine Frau. „Unsere Töchter kommen zu Besuch.“ Die Töchter studieren verschiedene Fächer in verschiedenen Städten. Die mittlere Tochter kommt mit ihrem Partner. Derzeit leben wir noch zu dritt in unserem Haus: meine Frau, mein Sohn und ich. „Was wollen wir essen?“, frage ich. „Alles“, sagt meine Frau. ... -
Gogols Jahresübertritt
für Jürgen Noltensmeier Nikolai Gogol (1809 – 1852) war einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller, der zwischen 1836 und 1848 immer wieder nach Westeuropa reiste. War er 1836, als er sich einen Monat in Hamburg aufhielt, auch in Rahlstedt? Eher nicht. 'Zwerg Nase' nennt ihn die freche Tochter von Blomenbeet. Sie ... -
Prozessionsspinner
Es klingelt, inzwischen habe ich aufgehört mitzuzählen. Adventszeit. Ich öffne dennoch die Tür, und vor mir steht ein magerer Mann. Er wirkt grau wie ein Buchenblatt vom Vorjahr. Hinter ihm auf dem Bürgersteig steht ein Lama, dessen Rippen ich zählen kann. Er erinnert mich an Charlie Chaplin und Buster Keaton ... -
Moonwalk
Es trommelt. Es trommelt überall. Auf dem Dach. An den Fenstern. Weil esgießt. Den ganzen Tag schon. Der Regen drückt aufs Haus, drückt auf FrauEngelmanns Stimmung. Der Wind peitscht die Birke. Deren Äste schlagen ansHaus.Frau Engelmann wohnt allein in ihrem großen Haus. Im Garten leben sechsHühner. Besonders nah ist ihr ... -
Auf der Suche nach der Pforte
Lange Zeit war ich als Kind auf der Suche nach dem Übergang gewesen. Nach irgendeinem Gang oder einer Tür, die mich in eine andere Welt führen würde. Überall schien es solche Türen zu geben: In Büchern, in Hotels, im Theater. Nur in unseren Siedlungshäusern gab es keine. Bei meinem Freund ... -
Im Wendehammer
„Flammend blühen die Fuchsien im Sonnengleiß“ rezitiert Wuttke. „Oh! Rainer Maria Rilke!“, sage ich. „Das habe ich lange nicht mehr gehört.“ „Der olle Rilke“, lächelt Wuttke. Wuttke ist ein Studienfreund meiner Frau. Wir stehen im Wendehammer am Ende unserer Straße. Im Hammerrund blühen die großartigsten Forsythien des Hamburger Ostens. Ein ... -
Im Wäldchen
„Rasier‘ dich und zupf‘ dir auch die Augenbrauen“, bittet mich meine Frau. Wir machen uns fertig,als würden wir zu einem Konzert in die Elbphilharmonie gehen. Sehen und gesehen werden.Meine Frau schminkt sich. Ich habe ihr einen neuen Lidschatten mitgebracht, neontürkis mitBronzeglitter. Neontürkiser Bronzeglitter ist nicht der Stil meiner Frau, aber ... -
Rave in Rahlstedt
Schon im März hatten wir vom Rahlstedter Freiluftclub gehört. Aber den ersten Lockdown ließen wir den Freiluftclub Freiluftclubsein. Stattdessen plünderten wir die Kleiderstangen des örtlichen Kostümverleihs: Dirndl und Lederhose fürs Oktoberfest, Förster, Krankenschwester und das Mauerset – wir nahmen alles mit. Zu Hause verkleideten wir uns, setzten uns aufs Sofa und ließen ... -
Schwimmen gehen
Meine Frau arbeitet zu Hause: Homeoffice. Wir stören und sollen den Nachmittag im Freibad verbringen. Also gehe ich mit meinem fünfjährigen Sohn in das Freibad meiner Jugend. Das Bad liegt direkt neben dem Friedhof. Auf einer großen Reklametafel, die zwischen den beiden öffentlichen Orten steht, wirbt der Stadtteil-Konditor mit dem ... -
Ein Seminar auf dem Land
Helga Bier, so wurde die Frau genannt, die ihnen den Platz zuwies. Es waren einfache Holzbänke, man saß zu zweit auf einer Bank, weit genug voneinander entfernt, so dass sich die Ellenbogen nicht berührten.Die Bänke waren nach vorne ausgerichtet, wo Helga Bier auf einem einzelnen hölzernen Schaukelstuhl saß wie eine ...