Oder je oller desto doller?!
Als ich 18 Jahre alt war, hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Eines Abends, vermutlich im Herbst, fuhr ich meine Großmutter nach Hause. Sie war damals Anfang 70 und höchstens ein Jahr verwitwet. Sie bedankte sich bei mir für meinen Fahrdienst. Gleichzeitig teilte sie ein Geheimnis mit mir. Sie erzählte mir, weshalb sie kürzlich die Mitfahrgelegenheit eines Mannes ausgeschlagen hat. „Ich habe mich nicht nach Hause fahren lassen. Möglicherweise hätte er noch mitreinkommen wollen“, hörte ich meine Großmutter sagen.
Wir standen in ihrem Hausflur. Sie lief in ihrer ordentlich gebügelten, cremefarbenen Bluse hin und her. Ihr langer Faltenrock reichte bis zu den Schienbeinen und zeigte ihre schlanken Fesseln. Dazu trug sie ihre orthopädischen Schuhe, die wegen der kaputten Füße, schon seit Jahrzehnten ihr Markenzeichen waren. Wie immer roch sie nach Eukalyptus. Meine Oma holte tief Luft und lachte schelmisch, „Ich bin mir nicht sicher, ob er mehr wollte…“. Ihr Blick sagte mehr als tausend Worte.
Fast zeitgleich begriff ich, die Sache zwischen Mann und Frau, das Spiel von Anziehung und Verführung, Lust, Sex und Sinnlichkeit hören nie auf. Sie macht sich mit über 70 immer noch dieselben Gedanken wie ich – und vermutlich fast 8 Mrd. andere auch. Das Alter war offensichtlich unbedeutend.
Nachdem mich meine Oma aus meinem vermeintlichen Dornröschenschlaf gerissen hatte, schämte ich mich fast, jemals etwas anderes geglaubt zu haben. Wow. Sex gehört also zum Leben und hört demnach nie auf. Möglicherweise verändert er sich, doch Lust hat nicht per se eine Altersgrenze oder ein Verfallsdatum. Das war angekommen und das sollte ich auch nie wieder vergessen.
Über die Jahre hat sich meine damalige Erkenntnis bestärkt und meine Kenntnis vertieft. Dank meiner Klienten habe ich mehr Einblick über die Sexualität jenseits des Rentenalters erhalten. Schon Udo Jürgens singt „mit 66 Jahren, da fängt das Leben an, mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran…“ Heute frage ich mich, weshalb auch nicht? Wie kommen wir darauf, dass es anders sein könnte? Weil die Lust schwindet und wir von Potenzproblemen hören? Häufig hat das mehr mit unserer Lebensführung, dem persönlichen Stresslevel, der inneren Haltung, mit andauernden Partnerschaftsproblemen, Krankheit oder anderen Störfaktoren zu tun, als mit dem Sex selbst.
Manche Menschen unterliegen dem Glauben, dass die äußere Form gleich bleiben müsse und sie denken, dass Sex nur in bestimmten Stellungen möglich ist, die im Alter nicht mehr machbar sind. Sowohl Männer als auch Frauen unterliegen häufig einem Leistungsdruck. Sie machen ihren Wert davon abhängig, ob sie es im Bett noch bringen und den Partner oder die Partnerin wie gewohnt befriedigen können. Dabei haben sie Angst nicht mehr genug zu sein. Sie fragen sich, ob die Menge der vorhandenen Scheideflüssigkeit oder der Härtegrad der Erektion ausreichen. Doch ist das alles, worauf es ankommt?
Der Film, „Wolke 9“ zeigt unverblümt wie Sex im Alter sein kann. Sind die Beteiligten sich einig, kann es tiefer, verbindender und viel liebevoller sein, als in jungen Jahren. Schließlich hat Mann oder Frau nicht mehr so viel zu verlieren. Die Unsicherheiten der Anfangszeit sind vorbei. Die Kinder sind aus dem Haus. Und die Angst vor ungewollten Schwangerschaften oder Geschlechtskrankheiten sind schwindend gering. Spätestens jetzt ist es Zeit so richtig zu genießen.
Ich wünsche mir, dass alle, die noch hadern und sich von Falten, Dellen und hängender Haut abhalten lassen, in den Genuss gehen und die eigene Schönheit erkennen – uneingeschränkt. Ihre körperlichen und mentalen Hindernisse annehmen und neue Wege finden, anstatt ihre Lust und Sinnlichkeit auf immer zu verbannen. Es ist nie zu spät, Lust neu zu entdecken, auszuprobieren und zu experimentieren.
Einen wunderbaren anderen Weg zeigen zum Beispiel Diana und Michael Richardson mit ihrer Slow Sex Bewegung. Insbesondere die Penetration mit einem nicht erigierten Penis bringt viel Entspannung und bietet neue Möglichkeiten. Wer das testet, kann sich von chemischen und technischen Hilfsmitteln verabschieden. Diese Methode macht nicht nur körperliche Vereinigung leicht, sondern fördert Nähe und Verbindung. Sie stärkt die Liebe anstatt den Leistungsdruck.
Für mich findet Leben im Körper statt. Und ich glaube, so lange wir noch leben, sollten wir ihn nutzen und Freude, Genuss und Wohlbefinden erlauben – in jedem Alter.