Das Kind stürzt und weint. Papa schiebt die Hose hoch, betrachtet die Schürfwunde am Knie und versichert: „Nicht so schlimm.“
Beim Abendbrot rückt Mama den Stuhl ihrer Tochter näher an den Tisch, damit sie besser sitzen kann und wischt ihr die Speisereste aus dem Gesicht.
Oma zieht dem Enkel die Mütze auf, weil sie es draußen kalt findet.
Die Erzieherinnen entscheiden, dass die Spielzeit zu Ende ist und nun aufgeräumt wird, weil es bald Mittagessen gibt. Alles völlig „normale“ Alltagssituationen im Leben von Kindern. Dinge, die vermutlich hunderte Male am Tag passieren in zig Familien und Kitas. Nichts, worüber wir uns wundern würden, wenn wir es beobachteten. Kennen doch die meisten von uns solche Handlungen und Sätze aus ihrer Kindheit und wenden sie auch bei den eigenen oder den ihnen anvertrauten Kindern an. Warum erwähne ich sie dann? Weil in all diesen Alltagsgegebenheiten kleine übergriffige Handlungen gegenüber Kindern enthalten sind, in denen sich eine Übermacht der Erwachsenen zeigt. Erkennbar wird dies, wenn wir die Szenen mit der Adultismus-Brille betrachten. „Adultismus benennt das ungleiche Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern. Erwachsene gehen oft davon aus, „dass sie allein aufgrund ihres Alters intelligenter, kompetenter, schlicht besser sind als Kinder und sich daher über deren Meinungen und Ansichten hinwegsetzen“ dürfen. Durch dieses Machtverhältnis lernen Menschen, „dass es »normal« ist, dass es ein »Oben« und ein »Unten« gibt und dass es erstrebenswert ist, »oben« zu sein“. Dieses Schema der Ungleichwertigkeit kann dazu führen, dass auch andere Formen der Diskriminierung nicht als Problem wahrgenommen werden“ (aus: vielfalt-mediathek.de). Wo sind in unseren Beispielen ungleiche Machtverhältnisse versteckt? Die Absicht des Vaters ist, sich um das Kind zu kümmern, es zu trösten und zu beruhigen. Er schiebt aber das Hosenbein ungefragt nach oben und spielt das Weinen und damit die Gefühle des Kindes herunter, indem er bewertet, dass die Wunde nicht so schlimm sei. Auch die Mutter sorgt sich um ihre Tochter. Doch führt sie ungefragte Handlungen am Kind aus, was sie bei ihrem Mann auf diese Weise vermutlich nicht tun würde. Oma entscheidet, was gut für den Enkel ist, ohne zu fragen, wie er selbst die Kälte empfindet und hindert ihn daran, am eigenen Leib zu spüren, ob ihm ohne Mütze zu kalt wird. Die Entscheidung der Erzieherinnen ist aus organisatorischen Gründen nachvollziehbar. Aus Sicht der spielenden Kinder kann der ungefragte Spielabbruch Gefühle wie Resignation, Trauer oder Wut auslösen, je nach Temperament, Entwicklungsphase und Erfahrungswerten.
Ungefragte Handlungen, für Kinder entscheiden, bewerten und Gefühle bagatellisieren zeigen in den Beispielen die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen auf.
Warum sollten wir dies überdenken?
Weil Kinder vollwertige Menschen sind. Es ist uns Menschen ein Bedürfnis, mit unseren Wünschen und Ideen gehört und gesehen zu werden. Wir wollen unsere Würde bewahren. Niemand möchte bevormundet, klein gehalten, bewertet oder übergriffig behandelt werden.
In der Pädagogik werden die Bedürfnisse von Kindern ernst heute stärker ernst genommen. Kinder werden in Entscheidungen einbezogen. Auch schon die Kleinsten in den Unter-Dreijährigen-Gruppen der Kitas können entscheiden, ob der Morgenkreis für sie so interessant ist, dass sie daran teilnehmen möchten oder nicht, was und wieviel sie essen und von wem sie wann gewickelt werden möchten.
Doch unsere Prägungen sitzen tief und die Umsetzung ist nicht immer einfach. Es fällt uns schwer, Macht abzugeben. Wir treffen auf Widerstände und Ängste in unserem Inneren. Vielleicht bereits, wenn Sie diesen Text lesen. „Wenn ich dem Kind überlasse, was und wie viel es isst, dann wird es doch nie etwas Gesundes zu sich nehmen.“ „Wenn es ohne Mütze herumläuft, wird es krank und ich trage die Verantwortung für die Gesundheit.“ „Unter Zeitdruck kann ich keine Wahlmöglichkeiten anbieten, das dauert zu lange.“, denken wir.
Was können wir tun, um unsere Kinder gleichwertig zu behandeln?
Zunächst können wir uns selbst ertappen: Wann und wie häufig führe ich Handlungen an meinem Kind ungefragt und unangekündigt aus? Akzeptiere ich bei meinem Kind auch die für mich unangenehmen Gefühle wie Trauer und Wut oder spiele ich sie herunter, schimpfe oder bin genervt?
Ein guter Richtwert ist immer die Frage: Würde ich meinen Freund oder meine Freundin auch so behandeln? Falls nicht, handle ich eventuell gerade übergriffig, bestimmend oder zumindest ungleichwertig.
Habe ich mich ertappt, kann ich das nächste Mal anders handeln und zunächst fragen, ob ich mir die Schürfwunde ansehen darf und mein Kind trösten, ohne zu bewerten.
Versuchen wir, den Entscheidungen der Kinder mehr zu vertrauen. Dazu brauchen sie Gelegenheiten, um zu spüren, wann sie Hunger haben, frieren oder müde sind. Finden wir heraus, ob die Befürchtungen, dass unsere Kinder ständig falsch entscheiden würden, tatsächlich eintreten. Vermutlich ist das gar nicht der Fall.
Nehmen wir die Gefühle unserer Kinder ernst und erfragen wir ihre Ideen und Vorschläge. Wir müssen nicht immer selbst die Lösung aus dem Ärmel schütteln.
Dabei ist das Ziel nicht, Kindern alles zu überlassen und sich selbst völlig rauszuhalten. Wir Eltern tragen die Verantwortung. Wir wägen ab, wo wir loslassen können und wo unser Kind liebevolle Führung braucht. Bemerken wir, dass wir das Kleinkind überfordern, wenn wir ihm zu viel Wahlmöglichkeit bieten, schränken wir die Auswahl ein. Ziel ist, beide Seiten als gleich wichtig zu betrachten. Das bedeutet, dass unsere Bedürfnisse den gleichen Wert haben, wie die unserer Kinder. Und wenn Kinder wissen, dass ihre Wünsche ernst genommen werden, dann nehmen sie auch unser „Nein“ an anderer Stelle ernst: „Ich gehe jetzt nicht mit euch Eis essen, weil ich Ruhe brauche.“
Oft fallen wir in Stresssituationen in alte Verhaltensmuster zurück. Dass wir Kinder unter Zeitdruck einmal nicht entscheiden lassen und ihnen die Jacke doch manchmal schnell überziehen, ist verständlich. Verzeihen wir uns das und versuchen wir dranzubleiben, indem wir unser Handeln öfter hinterfragen und den Kindern ganz bewusst so begegnen, wie unserer besten Freundin oder dem besten Freund. Je häufiger es uns gelingt, desto
selbstverständlicher und leichter wird es. So ermöglichen wir unseren Kindern zu erfahren, dass sie ebenso wertvoll sind, wie Erwachsene, dass sie Rechte haben, ihre Bedürfnisse äußern dürfen und dass es sich gut anfühlt, wenn alle Menschen gleich behandelt werden. Und wer weiß? Vielleicht fällt es ihnen mit ihren Kindern später ganz leicht, ihre Macht zu teilen und Kolumnen wie diese sind längst Schnee von gestern?!
Buchtipps zum Thema:
- für Eltern: S. Mierau: Frei und Unverbogen. Kinder ohne Druck begleiten und bedingungslos annehmen
- für Kitas: A.S. Winkelmann: Machtgeschichten. Ein fortbildungsbuch zu Adultismus für Kita, Grundschule und Familie