VS: Wie Sie wissen, Pastor Marks, greifen wir im „Rahlstedter Leben“ gern Themen mitten aus dem Alltag auf. Heute wieder ein Besonderes zum Interview mit ihnen. Und da falle ich gleich mal mit der Tür ins Haus: Haben Sie ein Tattoo? Wenn Ja: Wo? Und welches Motiv?
MM: Nein. Ich habe kein Tattoo. Bis auf die eine oder andere Narbe. Erinnerungsmale an Geschichten, die das Leben schrieb. Und Sie, Frau Siems, haben Sie ein Tattoo?
VS: Nein.
MM: Da haben Sie sich ja wieder ein spannendes, aktuelles Thema überlegt. Tattoos sind ‚in‘. Wie ich mal gelesen habe, ist jeder zehnte Bundesbürger tätowiert oder hat ein Piercing.
VS: Was meinen Sie: Ist das eine Modeerscheinung?
MM: Rein äußerlich betrachtet sind Tattoos Körperschmuck. Manchmal ohne tiefere Hintergründe, entstanden aus einer Laune heraus, als Nachahmung von Idolen, sexueller Kick, erotische Stimulation, Geltungsbedürfnis. Aber wenn man tiefer fragt, warum sich jemand tätowieren lässt, können die Bilder, Zeichen, Zahlen und Worte, die mit Tinte in bzw. unter die Haut gestochen werden, manchmal aufschlussreiche Botschaften enthalten. Da kann es um existenzielle Dinge, um Bewältigung von Krisen, bedeutsame Erinnerungen, Orientierung, Identitätssuche usw. gehen.
VS: Oft sieht man auch religiöse Motive. Manchmal sogar bei Menschen, die mit Kirche nichts am Hut haben.
MM: Ja. Da kommen spirituelle Fragen und Bedürfnisse zum Ausdruck, die oft mit der persönlichen Lebensgeschichte zusammenhängen. Zum Beispiel ein besonderes Erlebnis, das – im wahrsten Sinne des Wortes – unter die Haut gegangen ist. Es soll nicht in Vergessenheit geraten und wird dann als Tattoo festgehalten. Wer sich tätowieren lässt, findet das meistens nicht nur einfach schön, sondern bringt damit auch etwas von sich selbst zur Ansicht, wofür es vielleicht (noch) keine Worte gibt.
VS: Tattoos werden ja richtig in die Haut hineingestochen. Aua!
MM: Tja, das gehört dazu. Wer sich tätowieren lässt, muss das ertragen – und will das manchmal auch ertragen. Beim Stechen von Tattoos wie auch Piercings werden körperliche und/oder emotionale Spannungszustände kompensiert. Da wird die äußere Haut zur Darstellung eines inneren Konflikts benutzt. Narkose ist ja verpönt. Der Schmerz beim Stechen wird wie eine Mutprobe dafür empfunden, ob die ungleich schmerzhaftere Auseinandersetzung mit der seelischen Verletzung, also mit dem, was ‚echt‘ an die Nerven geht, vielleicht gelingen könnte. So wie die körperliche Wunde heilt, möge bitte auch die seelische Wunde heilen. Ob ein Tattoo das wirklich leisten kann, ist allerdings fraglich.
VS: Es heißt ja auch: Aus der eigenen Haut kommt man so leicht nicht raus.
MM: Manche Fachleute sagen, Tattoos halten unerträgliche Gefühle bloß auf Distanz, sind nur ein Aufschub, ein Snapshot von der Situation, in der man emotional steckengeblieben ist. Ein Tattoo kann also nur vorübergehend beruhigen. Ob viele deshalb mit nur einem Tattoo nicht zufrieden sind und sich bald danach ein weiteres und dann noch eins und noch eins stechen lassen?
VS: Wer weiß? Aber früher trugen doch vor allem Sklaven, Seeleute und Häftlinge ein Tattoo.
MM: Ja, das hatte andere Gründe. Früher dienten Tätowierungen dazu, Menschen zu Besitzstücken und Zwangsarbeitern zu machen, wie der Brandstempel auf Tieren. Genau umgekehrt galten Tattoos dann aber auch als Überlebens-, Schutz- und Freiheitszeichen. Man trug sie als Dank für das neugeschenkte Leben. In diesem Sinne ist übrigens auch in der Bibel davon die Rede, wo jemand zur Erinnerung an seine Befreiung durch Gott ein Zeichen an seinem Leib trägt (Galater 6, 17). Wieder anders erscheint die Bedeutung der Stigmatisierung in der Tradition des tätowierten Seemanns, die sich durch Kapitän James Cook von England aus verbreitet hat. Da ist die Tätowierung ein Identitätsmerkmal. Seemann zu sein, ist eine Auszeichnung. Man versteht sich als Teil einer exklusiven Gruppe.
Ehemalige Häftlinge tragen Tattoos mit Spinnen am Hals oder Hinterkopf, mit Tränen an den Augenrändern („Knasttränen“) oder mit drei Punkten zwischen Daumen und Zeigefinger („Nichts gesehen, nichts gehört und nichts gesagt“). Da hat es mit den Tattoos also einen Wandel gegeben. Was gesellschaftlich früher als negativ galt (Schande, Sünde, Verbrechen, soziales Außenseitertum), wird später zunehmend im positiven Sinne als Zeichen von etwas Herausgehobenem, Besonderem und Exklusivem verstanden und ästhetisch zur Schau getragen. In den 1970er Jahren werden Tätowierungen bei Punks und Rockern modern. Stars im Profi-Fußball und in der Musikbranche werden mit ihren Tattoos zu Vorbildern einer modernen Jugendkultur.
VS: Nochmal zurück zu den religiösen Motiven. Was sagen Sie als Pastor dazu, wenn jemand mit einem Kreuz-Tattoo herumläuft? Manche lassen sich ja auch die aufgeschlagene Bibel auf den Arm tätowieren, wo man einen besonderen Vers lesen kann. Oder eine Madonna oder Engel- und Teufelsgestalten oder betende Hände, oder ein Glaubensbekenntnis: „In God´s Hands“.
MM: Die Welt ist voll von Liturgie. Also von Bildern, Zeichen und Worten, die zeigen, woran Menschen glauben. Tattoos können Zeichen der Hoffnung und Zuversicht auf eine Macht sein, die höher, größer, weiter ist als man selbst und diese Welt. Ausdruck des Glaubens an eine letzte Wahrheit, eine umfassende Güte und Gerechtigkeit, Quelle von Liebe und Frieden. Aber so neu ist das gar nicht. Schon bei den frühen Christen war es üblich, sich zur Vergewisserung ihres Glaubens und als Identifikationszeichen die Initialen CX oder I.N. (Iesus Nazarenus) bzw. christliche Symbole (Lamm, Kreuz, Fisch) auf Stirn oder Handgelenk stechen zu lassen. Dass die Welt heute immer unreligiöser wird, wie manche Leute behaupten, stimmt einfach nicht. Nur ist die Kirche eben nicht (mehr) der einzige Ort, wo dies ausgelebt wird. Gottesdienst muss heute viel umfassender verstanden werden.
VS: Tattoo-Studio als Beichtstuhl?
MM: In gewisser Weise schon. Warum auch nicht? Obwohl derjenige, der sich tätowieren lässt, das selbst wohl nicht so nennen würde. Oft sind es ja auch unbewusste Gründe, die den Gang zum Tattoo-Studio motivieren. Über Tattoos werden Lebenserfahrungen ausgetauscht, Botschaften gesendet, äußern Menschen ihre Not, ihr Glück, ihre Verzweiflung, ihre Sehnsucht nach etwas, das bleibt, ihr Bedürfnis nach Anerkennung trotz allem, was nicht gut war oder nicht gut ist, nach Vergebung, der Chance für einen Neuanfang, nach Heilwerden im umfassenden Sinne. Tattoos können – so gesehen – auch Sinnbilder sein, eng verbunden mit der Gefühlswelt. Ob sie nun in religiöser Verkleidung daherkommen (Engel, Teufel, Maria, Jesus usw.) oder in anderen Gestalten (Drachen, mythische Helden, erotische Frauen, Totenkopf usw.), sie zeigen etwas von den Such- und Fluchtbewegungen im Leben dessen, der sich tätowieren lässt. Und dann kann man nur hoffen, dass sie nicht ins Leere laufen, sondern seelsorgliche Unterstützung finden.
VS: Sind Tattoos dann so etwas Ähnliches wie Ikonen?
MM: Wie viele Seiten in Ihrem Magazin hatten Sie für dieses Interview vorgesehen?
VS: Ach, habe ich da jetzt ein größeres Fass aufgemacht?
MM: Kann man wohl sagen. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, müssten wir so weit ausholen, dass ein Heft vom „Rahlstedter Leben“ nicht ausreicht. Aber spannend allemal. Hier nur kurz: Wer ein Tattoo trägt, verbindet damit häufig das Wirken magischer Kräfte. Das ist nichts Neues, sondern seit dem Ursprung des Phänomens vor vielen tausend Jahren in den verschiedenen Völkern der Welt – Afrika, Ägypten, Russland, Frankreich, den Kulturen Mikronesiens und Polynesiens, bei indigenen und japanischen Urbevölkerungen – üblich. Tattoos können Wunder vollbringen. Zumindest wird das von ihnen erwartet. Ähnliche Erwartungen und Erfahrungen werden in der christlichen Orthodoxie mit Ikonen verbunden. Sie gelten dort als heilige Bilder. Wer sie verehrt und küsst, darf damit rechnen, dass ihm die Sünden vergeben werden.
VS: In Tätowierer-Kreisen gibt es doch die Bezeichnung „Sin-Skin“.
MM: Ja genau. In Dortmund gibt es sogar ein Tattoo-Studio, das so heißt. Dort soll der Name natürlich im provokativen Sinne verstanden werden: als Adelung des Stigmas vom Außenseitertum. Aber die „Sünden-Haut“ erinnert natürlich an die biblische Geschichte vom „Sünden-Fall“ und trifft damit, vielleicht mehr als die Tätowierer und die Tätowierten ahnen, den Kern der Sache.
VS: Das soll aber nun nicht heißen, dass jedes Tattoo eine Ikone ist, oder?
MM: Um Himmels willen: Nein! Aber nun müssten wir länger darüber sprechen, was ein Bild ist, was Bilder können und was nicht.
VS: Das heben wir uns für ein anderes Mal auf. Danke, Pastor Marks, für dieses interessante Interview heute.
MM: Immer gern.