Lange Zeit war ich als Kind auf der Suche nach dem Übergang gewesen. Nach irgendeinem Gang oder einer Tür, die mich in eine andere Welt führen würde. Überall schien es solche Türen zu geben: In Büchern, in Hotels, im Theater. Nur in unseren Siedlungshäusern gab es keine.
Bei meinem Freund Thomas gab es immerhin eine Durchreiche, durch die seine Mutter Bohnen und Blumenkohl und weitere Schalen mit dampfendem Gemüse an den Esstisch reichte, wenn ich nach der Schule bei ihm aß. Gab es Blumenkohl, reichte Thomas die Schüssel direkt zurück in die Küche.
Mit Blick auf die Durchreiche wurde mir bewusst, dass eine Pforte nicht nur in eine Richtung funktionierte, sondern dass Dinge auch aus der anderen Welt in die eigene eindringen konnten. Und dass dies nicht immer die besten Dinge sein mussten.
Mein Leben war langweilig. Da waren die Schule, das Lauftraining und der Klavierunterricht. Alles absolvierte ich lustlos. Außerdem gab es Familienwochenenden, die meine Eltern, meine Zwillingsbrüder und ich auf verregneten Campingplätzen verbrachten oder Wochenenden mit nicht enden wollenden Brettspielen am heimischen Tisch. Niemand war an mir interessiert. Nur wenn die Zwillinge mich verprügelten, kam es zu Körperkontakt. Ich war allein zwischen meinen Eltern und den Zwillingen. Zwei Paaren, die am liebsten Paare waren. Ich sehnte mich nach einem Wandel. Mit meiner Langeweile kam mir die Idee zu verschwinden.
Bei Lewis Carroll las ich davon, wie Alice durch ein Kaninchenloch in eine andere Welt fiel. Aber in unserem Garten gab es weder Tiere noch Löcher. Maulwürfe erschlug mein Vater und das Loch, das ich im Beet grub, füllte sich innerhalb von Tagen mit einer Unzahl von Raupen, die meine Mutter in kochendem Wasser ertränkte.
So blieb für mich als einzige Pforte unser Klo übrig. Doch einen Übertritt gerade dort stellte ich mir eklig vor. Obwohl mir das Abflussrohr mit seinem großen Durchmesser passierbar erschien.
Neben unserer Siedlung stand ein imposantes Haus mit vielen Fenstern zur Straße. Es war beinahe schlossartig. Eines der Fenster war mit silbernen Sternen beklebt. Ich fragte mich, wer dort wohl wohnt. Erst jetzt im Erwachsenenalter, wo ich Filme wie 'Citizen Kane' und 'Boulevard der Dämmerung' kenne, wird mir die Riesenhaftigkeit des Hauses wirklich bewusst. Dieses Haus zog mich damals in seinen Bann. An einem Baum des Vorgartens hing eine Diskokugel. Sie glänzte im Sonnenlicht und ihr Funkeln hielt mich gefangen. Lange saß ich so da auf dem Bordstein vor dem Haus. Die Discokugel glitzerte und ich wartete, ob etwas geschah. Als es dämmerte, gingen hinter den Fenstern Lichter an, aber zu sehen war niemand.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, lief über die Straße und klingelte. Eine Hausangestellte öffnete mir. „Bist du ein Freund von Anne?“, fragte sie, und als ich nicht antwortete, bat sie mich hinein.
Über eine geschwungene Marmortreppe führte sie mich in ein pinkfarbenes Zimmer im ersten Stock. Dort saß eine Person mit faltiger Haut in einem Rollstuhl wie eine Greisin. Der Zimmereinrichtung nach zu urteilen, konnte sie aber kaum älter sein als ich. Auf ihrem Schoß hockte ein weißer Hase mit roten Pupillen und einem Geschwür an der Stirn. Ich hatte noch kein Wort gesagt, als sie mich ansprach: „Hallo, ich bin Anne. Ich hab‘ Progerie. Das ist eine multimorbide Krankheit. Ich sterbe. Willst du einen Kuss von mir bekommen?“
Ich antwortete nicht. Anne fuhr mit ihrem Stuhl an mich heran und gab mir einen Kuss auf den Mund. Äußerlich fühlte es sich so an, als würden meine Lippen mit Bimsstein gebürstet. Innerlich dachte ich, etwas stürzt in mir zusammen und gleichzeitig bricht Wasser auf mich herab. Es fühlte sich an, als würde ich geflutet.
„Willst du ihnauch küssen?“, fragte Anne und zeigte auf den Hasen. Ich schüttelte den Kopf. „Aber er wird bald sterben“, sagte sie. „Er hat einen Tumor.“ Ich schüttelte den Kopf.
Um acht kam die Hausangestellte. Sie deutete auf die Standuhr und sagte: „Es ist Zeit, mein lieber Freund.“
Nun wusste ich, wer in dem Haus lebte, aber die Pforte hatte ich dort nicht entdeckt. Am nächsten Morgen stand ich leise auf und schlich in die Toilette. Dort zog ich mich aus und fettete mich mit Butter ein. Im Internet stand, es gäbe kein besseres Gleitmittel. Ich machte einige Kniebeugen und dehnte meinen Körper, um ihn unbeschadet nach drüben zu bringen, als die Zwillinge ins Zimmer stürmten und sich auf mich warfen. Der Kampf endete unentschieden, weil ihre Schläge dieses Mal durch das Fett an mir abglitten. Mit einem Sprung ins Klo versuchte ich zu entkommen, aber nur eins meiner Beine verschwand dort bis zum Knie. Ein Klempner wurde gerufen und im Moment der Befreiung verflüchtigte sich meine Sehnsucht zu Verschwinden.
Stattdessen besuchte ich Anne. Stets öffnete mir die Hausangestellte, führte mich in die Halle, entschuldigte sich, dass sie noch etwas zu erledigen habe, und ließ mich allein vor der ausladenden Treppe stehen. Manches Mal erkundete ich das Haus, bevor ich zu Anne hinauf ging. In einem der Säle stieß ich auf eine Tapetentür. Hinter ihr lag ein dunkler, schmaler Gang, der zu einer Wendeltreppe führte. Vorsichtig stieg ich die Stufen hinab. Es roch deutlich nach Blumenkohl. Schließlich trat ich in die Küche, von wo mich die Hausangestellte zurück in die Halle führte.
Wenn ich Anne begeistert von den Räumen ihres Hauses erzählte und wenn ich sie bat, einmal mitzukommen, antwortete sie mir jedesmal: „Dafür bin ich zu müde. Geh du nur, wenn du magst. Ich warte hier auf dich.“
Im Winter starb Anne. Mit ihr verschwanden die Silbersterne. Ich fragte mich, ob man den Hasen mit ins Grab gelegt hatte. Über das Küssen hatte sie nie wieder mit mir gesprochen.
Jahrelang stand das Haus leer. Gestern sah ich, dass es renoviert wird und schlagartig hatte ich alles wieder vor Augen: Meine langweilige Kindheit, das leere Haus und Anne.
Lesungen mit Alexander Posch
Do., 27. Mai 2021, 19 Uhr, WADEK c/o M28 Hoch2, Am Sandtorkai 27; zur Bilderausstellung von Thomas Tannenberg, kostenlos.
So., 6. Juni 2021, 16 Uhr, WADEK c/o M28 Hoch2, Am Sandtorkai 27; Atelier zur Bilderausstellung/Finisage von Thomas Tannenberg; zeitgleich übertragen auf den Kibbelsteg und die Sandtorbrücke, kostenlos.
Do., 10. Juni 2021, 19:30, Gutskultur, Gut Karlshöhe, Karlshöhe 60 d, 10,- Euro;
weiteres unter: www.gut-karlshoehe.de/gutskultur
So., 13. Juni 2021, 16 Uhr, musikalisch-literarischer Rundgang durch Bramfeld (1,5 h), Start: Bücherhalle Bramfeld, Bramfelder Marktplatz.
Mi., 30. Juni 2021, schischischo, mit S.Amtsberg&M.Weins, Barkasse Hedi, 19:30 – 22:30, 10,-/12,- Euro.
So., 8. August 2021, 16 Uhr, musikalisch-literarischer Rundgang durch Bramfeld (1,5 h),
Start: Bücherhalle Bramfeld, Bramfelder Marktplatz.